Finale und Faszination des Philosophicum Lech
Interdisziplinäres Symposion von internationalem Format
Vor dem leiblichen Wohl kommt die geistige Nahrung. Oder zeitgemäßer und treffender gesagt: steht der intellektuelle Genuss. Die simple Maxime für aufgeweckte Geister und rege Gedanken findet beim Philosophicum Lech eine einfache Entsprechung. Bevor beim traditionellen Vorarlberg Brunch die Veranstaltung ihren stimmungsvollen Ausklang fand, wurde noch einmal lebhaft debattiert. Ob zwischen den Referenten oder im gedanklichen Austausch mit dem Publikum. Die Einbeziehung sämtlicher Teilnehmer am philosophischen Diskurs verstärkt den gemeinschaftlichen Charakter, wie beim antiken Symposion. Wer will, kommt zu Wort, erhält gehaltvolle Antwort oder auch fundierte Widerrede – und selbstverständlich Respekt. Es bedarf keiner akademischer Weihen, bloß der Lust am Philosophieren. Intellektuelle Begegnung in bestem Sinne.
Die Publikumsdiskussion ist nur eines der Geheimnisse, warum das Philosophicum derart Anklang findet. Genausogern ließen sich vonseiten der Vortragenden Argumente vorbringen. Zitieren wir einfach: „Ich wusste, dass es das Philosophicum gibt. Doch ich wusste nicht, dass es so sein würde. Mit so vielen Interessenten, derart vielfältigen Diskussionsmöglichkeiten. Ich finde es großartig. So etwas habe ich noch nie erlebt.“ Die ihren Vortrag einleitenden Worte von Christiane Voss, Philosophieprofessorin an der Bauhaus-Universität Weimar, sind weder bloße Dankesformel noch Seltenheit in Lech. Dass sich alljährlich eine derart illustre Runde an Referenten einfindet, ist zum einen den Bemühungen des wissenschaftlichen Leiters Konrad Paul Liessmann zu verdanken. Zum anderen zieht eine fabelhafte Veranstaltung schlicht ebensolche Vortragenden an.
Christine Voss durfte aber auch die Herausforderungen des Philosophicums kennenlernen. Ob im vorgegebenen Zeitrahmen für den Vortrag, der Voss trotz ihrer galoppierenden Rede einen vorzeitigen Schlussstrich ziehen ließ, oder in der Widerrede des zweiten Referenten am Samstag Nachmittag, des Heidelberger Literaturwissenschaftlers Roland Reuß. Bei der Diskussion ihrer Beiträge fanden sich die beiden prompt im Disput über Wahrnehmungsphilosophie und Rezeptionsästhetik in Bezug auf Kants „Kritik der Urteilskraft“ wieder. Als dann auch noch Robert Pfaller, Philosophieprofessor an der Universität für Angewandte Kunst in Wien, seine Kritik an Reuß richtete, wurde die Wechselrede direkt leidenschaftlich.
„Gott sei Dank ist es nicht Aufgabe des Philosophicums, Gräben zu schließen“, wie Liessmann humorvoll anmerkte und als Moderator im Wortsinn eine Fortsetzung der gepflegten Kontroverse in der Philosophen-Bar vorschlug. Der allabendliche Treffpunkt für tiefsinnige Dialoge und entspannte Konversation gilt längst schon als unverzichtbare Institution des Philosophicums. Denn wo, in aller Welt, findet sich in einem Abendlokal schon solch eine Ansammlung von ausgewiesenen Experten der fundierten, doch freien Reflexion und lässt sich mit prominenten Geistesgrößen völlig zwanglos plaudern? Dass sich der philosophische Diskurs oft auch abseits des Programms entfaltet, spricht für die ebenso ungezwungene wie konzentrierte, zweifelsfrei ansteckende Atmosphäre beim Philosopicum. Wobei die Interdisziplinarität dem Ganzen zusätzliche Impulse verleiht. Wie weit diese reicht, lässt sich allein schon an den Vorträgen von Samstag illustrieren.
Den Auftakt gab Robert Pfaller, der im Vortrag „das kostbare Ich und seine Verzichte“ charakteristische Phänomene der Gegenwartskultur in Rückgriff auf Fragen der Logik sowie der psychischen Instanzen des Ich (Freud) einer kritischen Analyse und Wertung unterzog. Wenngleich dies in der Philosophie höchst selten ist, wie er selbst anmerkte, gab er zum Schluss zwei Ratschläge: „Lassen sie sich nicht dazu verführen, das Glück des anderen als Ärgernis zu empfinden. Und misstrauen Sie jedem, der Sie als schwach und schutzbedürftig hinstellt. Jene Gouvernanten und Beschützer wollen Ihnen nur jenes erwachsene, stolze, würdevolle Ich wegnehmen, das zu politischen Bürgern gehört.“
Der Kritik am verzichtenden Ich von Pfaller folgte jene am „Ich im Netz“ der Direktorin am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen. Umrahmt von einer reizvollen Fiktion, eines E-Mail-Verkehrs von Walt Whitman und Mark Zuckerberg, beleuchtete Miriam Meckel in ihrem Referat die Auswirkungen der digitalen Präsenz auf die Identität als sich wandelndem Konstrukt und zunehmend auch Kapital. In der Annahme, dass das digitalisierte Leben „in seiner ganzen Optimierung, Perfektionierung und Funktionalisierung schrecklich langweilig wird“, hofft und setzt sie auf die Wiederbetonung der inneren Stimme des Menschen und seiner Authentizität.
Eine ähnliche Stoßrichtung ging auch der Vortrag von Roland Reuß, der als einer der profiliertesten Editionsphilologen jedoch aus einer ganz anderen Richtung seine Ausführungen machte. Aus dem Phänomen der Selbstvermarktung – mit mittlerweile deutlich pathologischen Zügen, wie er betonte – jenes des Selbstverlustes folgernd, führte er Sprachphilosophie und Sprachkritik, Hegel und Marx, ins Felde und führte anhand von Kleists „Amphitryon“ vor Augen, dass das alles schon da war: „die Verzweiflung der Selbstanpreisung, die Ablösung entäußerter Sprache“ vom Selbst. Schöne zeitdiagnostische Zwischenfrage: „Ist man kompetent, weil man behauptet es zu sein?“
Abgerundet wurde der samstägliche Vortragseigen von Christiane Voss unter dem Titel „Der verliehene Körper – zur technoästhetischen Transformation des Selbst“. Zunächst auf der Folie der Philosophiegeschichte – in Unterscheidung von subjektaffirmativen sowie subjektkritischen Positionen – einsetzend und im Nachzeichnen der Entwicklung der Medienwissenschaften auf die Erkenntnistheorie Friedrich Kittlers stoßend, verfolgte sie Subjektkonstruktionen quer durch die Philosophie des 20. Jahrhunderts, um in „phänomenologischer Herausarbeitung der Spezifität ästhetischer Erfahrung“ ein Freispielen der Affekte und Wahrnehmungen von ihrem eingebauten, egozentrischen Selbstbezug zu postulieren, indem man einem Kunstwerk seine Aufmerksamkeit leiht.
Am Sonntag Vormittag stand beim Philosophicum die Wahrnehmung, deren Theorie, und Manipulation im Mittelpunkt. Zunächst widmete sich Lambert Wiesing, Professor für Vergleichende Bildtheorie und ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, der Wahrnehmungsphilosophie. Dem vorherrschenden Paradigma, dass die Wahrnehmung ein Akt des Subjekts ist, sowie der Alten, dass Letzteres die Wirklichkeit nur spiegle, stellte er als Drittes einen phänomenologischen Ansatz gegenüber. Nämlich dass die Wahrnehmung bewirkt, dass der Wahrnehmende sich in der Wirklichkeit weiß. Diese „weltliche Verstrickung“ als Befindlichkeit, als Zumutung bezeichnend, erhalte die Betrachtung von Bildern – ohne solch Verstrickung – ihren besonderen Reiz.
Wiesings abschließende Metapher, Körperlichkeit sei „ein unablegbares Daseinskleid, welches ich von der Wahrnehmung angezogen bekomme“, schlug eine schöne Brücke zum Referat von Thomas Metzinger, Professor für Theoretische Philosophie in Mainz. Seine Ausführungen zur Erforschung und Manipulation menschlicher Wahrnehmung muteten aufgrund zahlreicher filmischer Dokumente zu Experimenten teils futuristisch an. Manches, was in fünf bis zwanzig Jahren durch den technischen Fortschritt möglich wird, hat bedenkenswerte ethische Implikationen, wie Metzinger betonte und auf sein diesbezügliches Engagement wie auch der Notwendigkeit interdisziplinärer Kooperation zwischen Empirikern, Neurowissenschaftlern und Philosophen verwies.
Bevor der Bürgermeister von Lech am Arlberg, Ludwig Muxel, in seiner Dankesrede das 17. Philosophicum Lech für offiziell beendet erklärte, wandte sich zunächst noch einmal Konrad Paul Liessmann ans Publikum. „Ich hoffe, Sie bekamen reichlich Anregung zum Nachdenken, auch bezüglich des täglichen Umgangs mit sich selbst“, wie der Spiritus Rector der Veranstaltung in Hinblick auf das diesjährige Thema „Ich. Der Einzelne in seinen Netzen“ hervorhob. Ebenfalls seinen Dank an sämtliche Beteiligte und nicht zuletzt die „Zuhörerschaft“, besser: Mitdiskutanten richtend, brachte er abschließend ein besonderes Anliegen zur Sprache: „Nachdem ich immer wieder gefragt werde, wie es zur Idee eines Philosophicums in Lech kam, sei hervorgehoben, dass angeregt von Michael Köhlmeier die Gemeinde selbst eine Möglichkeit zur philosophischen Reflexion schaffen wollte, insbesondere in Person von Ludwig Muxel, dem der größter Dank gilt!“
Welchen einzigartigen Rahmen das interdisziplinäre Symposium in der bezaubernden alpinen Höhenregion von Lech gefunden hat, wie sehr es längst im Ort verwurzelt ist, können jene erleben, die sich ab April 2014 für das nächste Philosophicum anmelden. Und zwar möglichst frühzeitig, darf doch davon ausgegangen werden, dass es schon vor Beginn wieder ausgebucht sein wird. Wer einmal dabei war, kommt gerne wieder, der Anteil der Stammgäste ist enorm. So gilt am letzten Tag des Philosophicum Lech stets besondere Aufmerksamkeit der Bekanntgabe des Themas für das folgende Jahr. 2014 lautet es von 17. bis 21. September: „Schuld und Sühne. Nach dem Ende der Verantwortung.“
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