Wenn Medikamente mehr schaden als nutzen
Am 17. November 2014 wiederholte das seit vielen Jahren ausgebuchte Dornbirner Montagsforum seinen diesjährigen Thementag aufgrund der großen Nachfrage mit einer zusätzlichen öffentlichen Abendveranstaltung zum Thema „Die Medikalisierung der Gesellschaft“.
Die Universitätsprofessoren Gerd Glaeske, Professor für Arzneimittelversorgungsforschung an der Universität Bremen, und Peter Berlit, Leiter der Neurologischen Klinik am Alfried Krupp Krankenhaus Essen, erläuterten auch anhand praktischer Beispiele den derzeitigen Usus im Umgang mit Medikamenten, das weit verbreitete Problem der Alters-Übermedikalisierung und gaben nicht zuletzt auch Tipps in der Handhabe chronischer Erkrankungen und damit verbundener Multimedikation.
13 Medikamente täglich an der Tagesordnung
Bei seiner Einführung verwies Christoph Gaedt, geschäftsführender Oberarzt am Krankenhaus Dornbirn und Moderator der anschließenden Diskussion, wortspielerisch auf den Zusammenhang von Themen Brisanz und Teilnehmer Präsenz in Anspielung auf die gefüllten Reihen im Kulturhaus Dornbirn. Der Mediziner stellte eingangs klar, dass unsere handelsüblichen Medikamente als wichtig und sinnvoll zu erachten sind, es aber die Aufgabe der Ärzte sein müsse, allzu große Mengen zu reduzieren, nachdem ältere Menschen nicht selten bis zu 13 Medikamente täglich einnehmen.
Behandlung chronischer Erkrankungen als große Herausforderungen für die medizinische Versorgung in der Zukunft
Gerd Glaeske, erster Referent am Podium und hinreichend bekannt als gefragter Ansprechpartner zu diesem Thema, hielt in seinem Beitrag zunächst grundsätzlich fest, dass die Arzneimitteltherapie die am häufigsten angewendete therapeutische Intervention in Europa darstellt, die – sofern richtig eingesetzt – auch zu den effizientesten gehört.
Hinlänglich bekannt findet in der EU derzeit eine stetige Verschiebung der Altersstruktur hin zu den älteren Menschen statt. Diese leiden häufig unter altersassoziierten und altersbedingten Erkrankungen wie etwa Hypertonie, Angina Pectoris, Diabetes, Herzinsuffizienz, Osteoporose, Demenz oder Parkinson. Dabei weist etwa die Hälfte der über 65-jährigen in Deutschland und Österreich drei oder mehr relevante chronische Erkrankungen nebeneinander auf, zu deren gleichzeitiger Behandlung es aber kaum Empfehlungen gibt. Im Alter vergrößert sich damit der durchschnittlich eingenommene Arzneimittelberg auf das Drei- bis Vierfache – alleine in Deutschland konsumierte im Jahr 2012 jeder einzelne durchschnittlich 25 Packungen Arzneimittel pro Jahr.
Einheitliche Anlaufstelle als Lösungsansatz
Auch wenn die verschiedenen Ärztinnen und Ärzte die jeweils einzelnen Erkrankungen richtig behandeln, kann die Gesamtzahl der Arzneimittel problematisch werden. Aus diesem Grund wäre laut Glaeske eine Stelle notwendig, bei der alles zusammen läuft, eine engere Kooperation zwischen Hausärzten und Apotheken. Auch die vieldiskutierten elektronischen Patientenakten könnten einer Übermedikalisierung erfolgreich entgegen wirken und äußerst wertvolle Dienste leisten.
Arzneimittel rund um die Uhr
Als Beispiel führt der Mediziner eine 79-jährige Frau als idealtypische geriatrische Patienten mit fünf chronischen Erkrankungen an, die von früh bis spät damit beschäftigt ist, Arzneimittel einzunehmen. Dies ist eine große Herausforderung, nachdem es Fehler dabei zu unterlassen und Wechselwirkungen zwischen den Medikamenten und damit neue Erkrankungen zu vermeiden gilt. Insgesamt handelt es sich bei seinem Beispiel um 12 verschiedene Medikamente zu 5 verschiedenen Tageszeiten in insgesamt 19 Einzeldosen, zahlreiche Praxisbesuche, Patientenschulungen, Selbstkontrollen und vieles mehr, was alles praktisch dennoch nicht ausreichend ist. Glaeske bezeichnet eine solche Situation als Verschreibungskaskade: unerwünschte Arzneimittelwirkungen rufen neue Erkrankungen hervor, was zu Multimedikation führt und damit das Risiko weiterer Interaktionen erhöht.
Im Grunde, so Glaeske, werden 4 bis 5 Wirkstoffe nebeneinander relativ gut vertragen, doch sind 10% aller Krankenhauseinweisungen älterer Menschen auf zu viele Arzneimittel nebeneinander zurück zu führen. Dem kann auch insofern entgegen gewirkt werden, als verschriebene Arzneimittel immer überprüft und gegebenenfalls auch korrigiert werden.
Gefahr durch Wechselwirkungen
Als weiteres Beispiel führt Glaeske eine 89-jährigen Frau an, die mit 19 Wirkstoffen 10 Wechselwirkungen ausgesetzt ist, da Arzneimittel untereinander einem gewissen Interaktionsrisiko ausgesetzt sind. Dieses liegt bei Einnahme von 7 Arzneimitteln bereits bei durchschnittlich 82%. In Deutschland gibt es aus diesem Grund eine Liste mit 83 Arzneistoffen, die sich untereinander nicht vertragen, was auch das Bewusstsein für das Thema schärfen soll: http://priscus.net.
Beispiele nichtkompatibler Arzneimittel
So haben Blutgerinnungshemmer vorbeugende Funktion, können aber in Kombination mit Schmerzmitteln fatale Auswirkungen haben und unter anderem innere und äußere Blutungen hervorrufen. Dies wird bei der Behandlung in Spitälern immer wieder nicht berücksichtig, da Schmerzmitteleinnahmen von vielen Patienten nicht als relevante Medikation angegeben werden.
Eine typische altersassoziierte Erkrankung ist die Herzinsuffizienz, die oft auch tödlich endet, da nicht richtig eingestellt und behandelt. Interagiert diese mit Abführmitteln, führt dies zu flüssigen Stühlen und in weiterer Folge zu Kaliumverlust, was eine Digitalisvergiftung zur Folge haben kann – einer der häufigsten Einweisungsgründe in Deutschland.
Darüber nicht zu vergessen sind Schlaf- und Beruhigungsmittel, die auf Dauer immer zur Abhängigkeit führen, was für einen Zeitraum von 25 Jahren gar nicht geläufig war und erst 1983 von der Herstellerfirma La Roche offiziell bekannt gemacht wurde.
Was kann jeder einzelne tun?
Laut Glaeske sind künftig bessere und unabhängige Arzneimittelstudien unter Berücksichtigung älterer Patientinnen und Patienten dringend nötig. Bisher wurden dafür überwiegend 40-jährige Männern herangezogen, die für jene Altersklasse mit erhöhtem Risiko jedoch nicht repräsentativ sind. Darüber hinaus wäre eine nähere Zusammenarbeit von Ärzten und Apotheken auf Basis unabhängiger Informationen essentiell. Und auch in Sachen Patienteninformation muss sich einiges tun, was deren Angehörige und Umfeld ebenfalls miteinbezieht. Generell wünscht sich der Mediziner eine Förderung des allgemeinen Bewusstseins im Umgang mit Medikamenten.
Medikalisierung – was ist das?
Im Anschluss versuchte der Neurologe Peter Berlit sich zu Beginn seines Redebeitrages zunächst in der Begriffserklärung von Medikalisierung, einer Wortschöpfung, die den breiten Massen noch nicht geläufig ist. Im Zuge seiner Recherchen dazu fiel ihm auf, dass damit offensichtlich gesellschaftliche Phänomene in medizinischen Termini definiert oder mit medizinischen Mitteln behandelt und über die Medien allgemein verbreitet werden. Als Beispiel nannte er etwa Geburten auf Wunsch zu einem speziellen Datum, das neue Thema Social Freezing, bei dem es um das Einfrieren von Eizellen geht, um Frauen eine Geburt in höherem Alter zu ermöglichen, das Thema Sterbehilfe und sterben ohne Schmerzen, den allseits verbreiteten Anti-Aging-Boom oder auch neue Erkrankungen wie Burn-Out – statt die gesellschaftlichen Ursachen anzugehen, wird die Problemlösung laut Berlit damit in die Verantwortung von Arztinnen und Ärzten ausgelagert.
Medikamente als Gesellschaftsdroge
Unsere Gesellschaft stellt den Anspruch, dass alles mit Pillen behandelbar sein muss, auch jede banale Altersveränderung. Anstelle einer Veränderung des Lebensstils wird lieber zu Arzneimitteln gegriffen. Während Prof. Glaeske von 10 % Alterseinweisungen aufgrund unerwünschter Nebenwirkungen sprach, sind laut Berlit insgesamt 5% aller Einweisungen darauf zurückzuführen. Mit der zunehmenden Medikalisierung steigen natürlich auch die Kosten fürs Gesundheitssystem, da Menschen zu Patienten gemacht werden, deren Anliegen eigentlich politisch zu lösen wären. Berlit führt diese Tendenz auch darauf zurück, dass die Einnahme von Arzneimitteln auf den ersten Blick einfach und bequem erscheint. In der Realität ist diese jedoch teuer, häufig nutzlos und mitunter sogar riskant.
1 Milliarde € Einsparungspotenzial
Durch Vermeiden unerwünschter Arzneimittelwirkung könnten in Deutschland jährlich etwa 1 Milliarde € laut Deutschen Ärzteblatt (Nr. 111) eingespart werden. Nicht zuletzt auch aus Kostengründen wurde im Jahr 2012 das Pharmakovigilanzsystem in der EU ins Leben gerufen, das die Gesamtheit der Maßnahmen zur Entdeckung, Erfassung, Bewertung und Vorbeugung von Nebenwirkungen umfasst, um in erster Linie jedoch Medikationsfehler und damit vermeidbare Risiken für den Patienten bei der Arzneimitteltherapie zu verringern. Als Medikationsfehler gilt dabei unter anderem auch das Unterlassen der Aufklärung eines Patienten.
Risikofaktoren für unerwünschte Arzneimittelwirkung
Darunter fallen höheres Lebensalter, Langzeittherapie, Mehrfachmedikation, verschiedene Ärzte, eingeschränkte Leber/Nierenfunktion, Selbstmedikation oder auch Nahrungseinflüsse. Dabei unterscheidet Berlit zudem zwischen On-Label-Use, dem bestimmungsgemäßen Gebrauch eines Medikaments, und Off-Label-Use, der Anwendung, die nicht dem eigentlichen Einsatz entspricht, aber dennoch dem bestimmungsgemäßen Gebrauch zugerechnet wird, sofern für den Patienten von einem positiven Nutzen-Risiko-Verhältnis ausgegangen werden kann. Gerade in Altersheimen wären laut Berlit 20% der unerwünschten Arzneimittelwirkungen vermeidbar.
Stürze als unerwünschten Arzneimittelwirkungen
Unter anderem durch die sogenannte Polymedikation ausgelöst werden können Stürze, gerade bei älteren Menschen. In Altersheimen ist die Anzahl an Dauerverordnungen enorm, was wiederum das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen birgt. Diese sind zumeist auf inadäquate Dosierung, ungeeignete Arzneimittel aber auch mangelhafte Überwachung (Monitoring) zurückzuführen. Stürze und andere unerwünschte Arzneimittelwirkungen wie Verwirrtheitszustände in Altersheimen könnten jedoch vielfach vermieden werden, wenn bestimmte Grundsätze der Pharmakotherapie Beachtung fänden.
Was kann getan also werden
Dies beginnt mit der Präparatewahl, die auf Wirkung und Verträglichkeit, Organschäden, Frequenz und Wirkdauer hin getroffen werden muss, aber auch alternative Strategien sollten angedacht werden. Patienten sind über Indikation, Dauer, Nebenwirkungen und deren nicht zu verachtende Rückmeldungspflicht aufzuklären. In Sachen Dosierung empfiehlt der Mediziner „Start low and go slow“. Dabei ist stets die Reduktion auf eine Mindestzahl von 5 Pharmaka anzustreben – wobei Dosisanpassungen hinsichtlich der Jahreszeiten oder auch Akuterkrankungen notwendig sein können. Patienten sind darüberhinaus stets nachdrücklich nach Eigenmedikation zu befragen und auch eine Einnahmebeendigung sollte schon früh angedacht und besprochen werden. Ebenfalls gewährleistet sein muss die Einnahmekompetenz der Patienten, aber auch jene der Angehörigen und des Pflegepersonals, nicht zuletzt um Überdosierungen zu vermeiden. Als Beispiel führte Berlit hier unter anderem zu spät entfernte Wirkstoffpflaster an.
Gesunder Lebensstil durch Medikamente nicht ersetzbar
Auch abschließend stellte Berlit noch einmal klar, dass Medikamente zur Behandlung von Befindlichkeitsstörungen nicht geeignet sind und weder Ärzte noch das Gesundheitswesen für Lebensphänomene wie Geburt oder Tod verantwortlich sein können. Darüber hinaus haben Arzneimittel nicht die Kraft, eine erforderliche Änderung des Lebensstils (Schlaf, Bewegung, gesunde Ernährung) zu ersetzen, auch wenn deren Einnahme einfach und bequem erscheint. In Wirklichkeit verursacht ein Zuviel an Medikamenten vor allem auch hohe Kosten und kann mitunter sogar riskant sein kann.
„Nahrungsmittelergänzungsmittel? Nehmen Sie`s nicht!“
In der abschließenden Diskussion richtete Oberarzt Christoph Gaedt noch Publikumsfragen an die beiden Mediziner. Unter anderem fiel das Thema auf Nahrungsmittelergänzungsmittel, die Prof. Glaeske als keinen vollwertigen Ersatz für die gezielte Behandlung etwaiger Mängel erachtet. Es gelte in diesem Fall ehrlich zu sich selbst zu sein, sich ausgewogen zu ernähren, Fleisch als Beilage zu betrachten und möglichst zwei Mal wöchentlich Fisch zu sich zu nehmen.
Eine weitere Frage galt dem Thema Magenschutzmittel, die vor allem auch aus Absicherung von Krankenhäusern gerne und oft verschrieben würden. Jedoch werden nach Meinung beider Ärzte nicht rezeptpflichtige Mittel im Rahmen von Selbstmedikation oft zu lange angewendet. Aus diesem Grund sollten gerade im Fall von Magenschutzmitteln stets im Vorfeld auch schon diverse Absetzmöglichkeiten besprochen und angedacht werden, da sie, ähnlich wie auch verschiedene Schilddrüsenpräparate, oft gar nicht gebraucht werden.
Auf die Frage der Schmerzmitteldosierung hieß es ebenfalls einhellig, dass generell nicht mehr als 10 Tabletten pro Monat konsumiert werden sollten und deren Einnahme nicht länger als vier Tage in Folge dauern dürfe. Dabei sollte immer auf einen Wirkstoff reduziert und Kombinationspräparate tunlichst vermieden werden. Gerade im Fall von Schmerzmitteln könne man sich alternativ jedoch auch in der Anwendung von Naturprodukten versuchen. Gerade im Fall von Kopfschmerzen helfen Pfefferminzöle oft schnell und unproblematisch.
Zur Sinnhaftigkeit der Einnahme von Generika waren sich beide Mediziner ebenfalls einig, dass es sich dabei grundsätzlich um keine schlechterere Wahl handle. Generika sind Zweitanbieterprodukte mit denselben Wirkstoffen, die auch deren patentierte Vorbilder enthalten. Einzig eine Umstellung auf Generika vertragen nicht alle Patienten gleich gut (bei 3 bis 5 Prozent ist dies der Fall) und generell gilt, dass sich ein Umstellen immer komplizierter gestaltet als neu einzustellende Medikation.
Beide Mediziner betonten abschließend, dass trotz aller Übermedikalisierung die schlimmste Situation immer noch jene ist, wenn notwendige Medikamente nicht eingenommen würden, was Prof. Glaeske noch zum folgenden Bonmot hinreißen lies, das vom Publikum mit reichlich Lachern quittiert wurde: „Aus Angst vor dem Tod hat er sich umgebracht.“
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