Vortragsreihe des 25. Philosophicum Lech und kurze Vorschau auf 2023
Lech, 2022-09-26
Vortragsreihe des 25. Philosophicum Lech und kurze Vorschau auf 2023
Grundlegende Analysen und elementare Erkenntnisse zum Hass als zwischenmenschlich und gesellschaftlich hochbrisantes Phänomen
Unter dem Titel „Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls“ befasste sich das 25. Philosophicum Lech mit einem oft beklagten, doch schwer fassbaren Phänomen. Namhafte Vortragende aus Geistes- und Humanwissenschaften, Philosophie und Psychologie sorgten für eine breit gefächerte interdisziplinäre Erörterung und Diskussion. Erneut erwies sich die internationale Tagung vom 20. bis 25. September 2022 am Puls der Zeit und präsentierte sich Lech am Arlberg als idealer Begegnungsort für den Austausch über brisante Themen. Bei den Teilnehmenden aus dem gesamten deutschen Sprachraum fanden die spannenden Beiträge wie auch die Atmosphäre ein überaus positives Echo.
Bevor der Obmann des Vereins Philosophicum Lech Ludwig Muxel das stets mit Spannung erwartete Thema im kommenden Jahr bekanntgab, galt sein Dank all jenen, die am Gelingen des sechstägigen Symposiums ihren Anteil hatten. An erster Stelle nannte er den wissenschaftlichen Leiter Konrad Paul Liessmann und gratulierte ihm zur Verleihung des Montfortordens in Gold für die freundschaftliche Verbundenheit mit dem Land Vorarlberg und seine langjährigen Verdienste um das Philosophicum Lech. Die Ehrung erfolgte durch den Vorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner bei der feierlichen Eröffnung am Donnerstag, den 22. September 2022. Ein besonderes Datum, beging die renommierte internationale Tagung heuer doch ihr 25-jähriges Jubiläum. Eine wahre Erfolgsgeschichte, an der viele teilhaben, begonnen bei Ideengeber Michael Köhlmeier und Altbürgermeister Ludwig Muxel, die u. a. mit dem ehemaligen Landesrat Guntram Lins das Philosophicum Lech aus der Taufe hoben. Entscheidend zur Gründung, Etablierung und Weiterentwicklung des Philosophicum Lech beigetragen hat der Professor i. R. für Philosophie an der Universität Wien und u. a. österreichischer „Wissenschaftler des Jahres“ 2006 Konrad Paul Liessmann, dessen außerordentliche Kompetenz und Feinsinn von Muxel in seinen Dankesworten am Abschlusstag hervorgehoben wurden.
Über all die Jahre erwies der wissenschaftliche Leiter immer wieder ein untrügliches Gespür für Entwicklungen von ebenso großer gesellschaftspolitischer Brisanz wie wissenschaftlicher Relevanz. Zudem gelang es ihm stets, namhafte Referentinnen und Referenten mit Expertise zum jeweiligen Jahresthema für die transdisziplinäre Tagung zu gewinnen. Dies bestätigte sich erneut beim 25. Philosophicum Lech, das sich vom 20. bis 25. September 2022 unter dem Titel „Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls“ einem zwar häufig diskutierten, doch selten tiefgreifend analysierten Thema widmete. Vortragende aus diversen Wissenschaftsdisziplinen von hoher Fachkenntnis und Reputation garantierten für eine multiperspektivische Annäherung an das individual- wie auch sozialpsychologisch, ethisch, politisch und kommunikationswissenschaftlich problembehaftete Phänomen. Die meisten nahmen am gesamten Symposium teil und stellten sich nicht nur den Publikumsdiskussionen im Anschluss an die Referate, sondern debattierten auch in den Pausen oder abends in der Philosophenbar. Einige von ihnen wie auch die 20 Stipendiaten und selbst Medienvertreter hoch renommierter Zeitungen zeigten sich erstaunt über die hohe Anzahl von über 600 Teilnehmenden bei einer geisteswissenschaftlichen Tagung.
Auftakt mit einer Philosophie der Gefühle sowie der Anatomie des Hasses
Den Eröffnungsvortrag am Freitag, den 23. September hielt einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Emotionsphilosophie. Christoph Demmerling, Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Theoretische Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, referierte zum Thema „Feindselige Gefühle. Über die dunkle Seite des Geistes“. Zunächst erläuterte er Grundlegendes zur Philosophie der Gefühle und konkretisierte, was Gefühle sind. Daraufhin analysierte er insbesondere die Eigenschaften und Ursachen des Hasses, wobei er diesen in ein Verhältnis zu anderen feindseligen Gefühlen wie Ressentiment und Verachtung setzte. Schließlich stellte er sich der Frage, wie mit dem Hass umzugehen sei, und empfahl Offenheit für eine Kultur der Ablehnung: „Auch die dunkle Seite des Geistes ist eine Seite des Geistes. Kultivieren wir sie und seien offen für Ablehnung, ohne uns den Exzessen von Gewalt und Hetze hinzugeben.“
Das zweite Referat am Freitagvormittag unter dem Titel „Die simple Anatomie des Hasses und die Raffinesse seiner Tarnungen“ hielt Hilge Landweer, Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin, die u. a. zusammen mit Demmerling das Standardwerk „Philosophie der Gefühle“ (2007) verfasste. Dabei stellte sie ihre Überlegungen vor, die zu der These führten, dass Hass sich oft hinter anderen Gefühlen verbirgt. Aufgrund dessen verglich sie den Hass mit der Empörung, vor allem aber mit der Verachtung. „Hass und Verachtung werden oft miteinander verwechselt, gehen aber ineinander über und das wirkt sich vor allem im öffentlichen Raum fatal aus“, so Landweer. Ihre zweite, zentrale These war, dass Verachtung mindestens ebenso gefährlich sei wie Hass, weil sie unterschätzt, oft auch ganz übersehen wird. Auf Verachtung, auch das würde sehr leicht übersehen, wird oft mit Hass geantwortet. „Ich halte es für dringend erforderlich, eine öffentliche Diskussion über die destruktiven Folgen auch der Verachtung anzustoßen“, wie sie betonte.
Der Trieb zur Grausamkeit und die Schwierigkeit, mit dem Hassen aufzuhören
Am Freitagnachmittag referierte zunächst der bekannte Vorarlberger Psychiater, Psychotherapeut und forensisch-psychiatrische Gerichtsgutachter Reinhard Haller zum fachübergreifenden Thema „Der Trieb zur Grausamkeit – Psychodynamik und Psychopathologie des Hasses“. Einleitend klärte er die Frage, ob der Hass ein Affekt, ein Trieb oder eine Leidenschaft ist. „Die Definition als zerstörerische Leidenschaft scheint noch die treffendste zu sein. Denn Leidenschaft ist eine das Gemüt völlig ergreifende Emotion und umfasst die kognitive Verfolgung von Zielen.“ Anschließend analysierte Haller den Selbsthass und kam auf die „dunkle Tetrade“ als Kombination von Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie und Sadismus zu sprechen. Diese sei bei 90 Prozent der amerikanischen Serienkiller und vielen der schrecklichsten Despoten der Menschheit nachweisbar. Des Weiteren widmete er sich dem Hass der Incel, der unfreiwillig Zölibatären, wie auch der Hassliebe. Seiner Anatomie des Hasses folgte die wichtigste Maßnahme in der Hassprävention: „Ob und wie die Sublimierung des Todestriebes gelingt, ist eine entscheidende Frage in der Persönlichkeitsentwicklung. Wichtig sind die Förderung von Empathie in der Erziehung, zwischenmenschliche Begegnung, Selbsterkenntnis und auch Therapie.“
Abgeschlossen wurde die Vortragsreihe am Freitag durch das Referat von Ingrid Vendrell Ferran, Professorin an der Universität Marburg, unter dem Titel „Hassen: Warum es so schwierig ist, damit aufzuhören“. In diesem ging sie anfangs auf die Struktur des Hasses ein und vertrat die These, dass der Hass eher als Emotion denn als eine Gesinnung zu verstehen ist, die aus einem Prozess der Sedimentierung anderer feindlicher Emotionen entsteht. Denn der Hass habe eine Geschichte, in der viele verschiedene negative Gemütsbewegungen eine Rolle gespielt haben könnten. Danach klärte sie die Frage, warum es so schwierig ist, mit dem Hassen aufzuhören. Diese beantwortete sie damit, dass viele unserer Strategien, mit negativen Gefühlen umzugehen, aufgrund der strukturellen Eigenschaften des Hasses nicht wirken. So sei es wegen des Charakters einer Gewohnheit sehr schwierig, über den Hass zu reflektieren oder ihn zu steuern. Weil der andere uns im Hass als böse erscheint, wollen wir weder seine Perspektive übernehmen noch uns in ihn einfühlen. Zudem ist der Hass eine Gemütsbewegung, die sozial sanktioniert ist. Daher versuchen wir, den Hass entweder versteckt zu halten oder uns darüber zu täuschen, schließlich könne Hass als ein Zeichen für einen schlechten Charakter gesehen werden.
Über den Selbsthass und wie ideologisches Denken den Blick verzerrt
Den Auftakt am Samstag gab die Schweizer Psychoanalytikerin Jeannette Fischer, die sich über Jahrzehnte mit Macht, Gewalt und Angst auseinandergesetzt hat, mit dem Vortrag „Hass ist auch immer Selbsthass“. Ausgangspunkt war die Definition von Hass als eine vernichtende, durch die Sozialisation pervertierte Umformung einer vormals konstruktiven Energie. „Die konstruktive Aggression ist eine Energie, die wir nutzen, um uns für uns selber, für unsere Bedürfnisse und Interessen einzusetzen. Kommt dem Ich diese konstruktive Aggression abhanden, dann ist es beschädigt. Es ist ein ohnmächtiges Ich, das sich nicht mehr für sich selbst einsetzen kann, das der Eigenmächtigkeit entbehrt und Angst hat“, so Fischer. Beziehungen, die mit Angst verbunden sind, seien in unserer Gesellschaft alltäglich, also die Regel und nicht die Ausnahme. Wir haben Angst, den anderen zu verlieren, wenn wir etwas tun oder sagen, was wir als beziehungsgefährdend erachten. Wir haben Angst, die Stelle zu verlieren, wir haben Angst, Zugehörigkeit zu verlieren, ausgeschlossen zu werden und vieles mehr. „Den Hass können wir nicht beseitigen, indem wir ihn bekämpfen, ja ihn gar hassen. Damit befeuern wir ihn nur. Vielmehr kommen wir nicht darum herum, ihn zu erkennen, zu verstehen und einzuordnen, auch unseren eigenen Hass, auch den gegen uns selber.“ Die Vernichtungswucht des Hasses drohe dort auszubrechen, wo wir dem anderen seine Differenz aberkennen, was wir ständig tun und uns angetan werde. Denn unser Verständnis von Beziehung beruhe traditionell nicht auf der Differenz, sondern auf der Homogenität. Die fatalen Konsequenzen dieser Dynamik veranschaulichte die Psychoanalytikerin schließlich anhand des Massenmörders Anders Breivik und dessen Kindheit.
Es folgte das Referat von Barbara Zehnpfennig, Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau und Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, zum Thema „Der Hass auf die Welt, der Hass auf den Menschen – wie ideologisches Denken den Blick verzerrt“. An den Anfang stellte sie die Frage, ob man hassen darf, wenn es um eine gerechte Sache geht. „Menschen, die die Welt radikal verändern wollen, werden dies wahrscheinlich bejahen“, sprach sie eine Haltung an, der sie im Weiteren nachforschte. Mit dem Hinweis, dass Hass immer ein perfekter Motor ist, um sich politisch durchzusetzen, ergründete Zehnpfennig in einem zweiten Schritt das ideologische Denken im Sinne von geschlossenen Weltanschauungen. Ideologien glauben tatsächlich, erkannt zu haben, was die Welt zusammenhält. Die Komplexität der Welt wird radikal reduziert, was die Nähe zu Verschwörungstheorien deutlich macht. Anhand der drei Ideologien Nationalsozialismus, Marxismus und Islam, dekuvrierte sie deren Gemeinsamkeiten: Die Welterklärung wird in die Vergangenheit und Zukunft verlängert, mit Idealisierung der Vergangenheit. Die Gegenwart wird als Zeit einer umfassenden Krise gesehen, in der die Verhältnisse so verkehrt sind, dass die vorgefundene Wirklichkeit in Gänze und total abgelehnt wird. Da das Übel erkannt wurde, soll die gesamte Menschheit befreit werden. Zehnpfennigs Fazit: Urteilt man absolut, wird man dem Gegenstand seines Urteils nicht gerecht. Man hat sich selbst und seine Voreingenommenheit zum Maßstab gemacht und versucht diesem, Mensch und Welt zu unterwerfen. Dass dieses Vorgehen dem Gegenstand Gewalt antut, zeige sich an den dargestellten Theorien sehr deutlich. „Gut kann Hass also wohl in keinem Fall sein – auch dann nicht, wenn er sich in das Gewand des Gerechten kleidet, der von den schlechten Verhältnissen genötigt wird, so lange zu hassen, bis er das Gute herbeigemordet hat.“
Angst, Ressentiment und Hass in Jugendkulturen und vom Umgang mit Hass
Den ersten Vortrag am Samstagnachmittag unter dem Titel „Angst, Ressentiment und Hass in den Jugendkulturen“ hielt Bernhard Heinzlmaier, der seit über drei Jahrzehnten in der Jugendforschung tätig ist. Er ist Mitbegründer und seit 2003 Vorsitzender des Instituts für Jugendkulturforschung in Wien und leitet hauptberuflich das Marktforschungsunternehmen tfactory Trendagentur in Hamburg. Vorab meinte Heinzlmaier, er sei noch nie einem Thema begegnet, das ihn so gefordert und im Unklaren gelassen habe wie der Hass in Jugendkulturen. Er konstatierte auch bei der Jugend eine ohnmächtige Wut, die sich nach innen kehrt und zur „seelischen Selbstvergiftung“ führt, worunter er Hass und Ressentiments versteht. Anhand etlicher Statistiken zeichnete er nach, wie das Vertrauen zunehmend erodiert, insbesondere jenes zum Staat in den Mittel- und Unterschichten. Zudem konstatierte Heinzlmaier „so etwas wie ein postmodernes Duckmäusertum“, was u. a. auf angstbesetzte Themen zurückzuführen sei und zu einer Schweigespirale führe. Wo jedoch Diskussionen geführt werden, seien diese hochgradig emotional. Eine Ursache dafür ortete der Jugendforscher in der Medienlandschaft, die immer mehr vom Bild dominiert sei und wo Argumente immer weniger eine Rolle spielten. Das wichtigste Bildungsmittel für Jugendliche sind YouTube und Instagram. Am anfälligsten für Hass seien die Fußball- und die Hip-Hop-Szene, wo der männliche Anteil besonders groß ist und der Wettbewerbsgedanke besonders stark. Das Ressentiment habe seine Wurzel in der Konkurrenz- und Wettbewerbsgesellschaft, weshalb er sich dafür aussprach, die gesellschaftlichen und insbesondere die ökonomischen Verhältnisse stärker zu reflektierten.
„Vom Umgang mit Hass“ lauteten im Anschluss die Ausführungen der deutschen Philosophin, Journalistin und Autorin Svenja Flaßpöhler, seit 2018 Chefredakteurin des Philosophie Magazins. Hass sei etwas, was aus unserer Gesellschaft nicht wegzudenken ist, wie sie zunächst betonte. „In Zeiten von Social Media können Sie von Leuten gehasst werden, die Sie gar nicht kennen“, berichtete sie aus eigener Erfahrung mit Shitstorms. Ihre zentrale Botschaft lautete, dass wir mit Hass umzugehen lernen müssen. Heutzutage herrschten zwei Verhaltensweisen vor: die sensible, bei der Hass unmittelbar in das Innerste vordringt, und die toxische Männlichkeit, an der dieser abprallt. Die wahre Resilienz sei vielleicht eine Verbindung von beiden, wie Flaßpöhler an diversen Beispielen illustrierte. Um in dieser Tiefe denken zu können, müsse man intensiv mit der Welt in Verbindung stehen, verwies sie auf „den hochsensiblen Friedrich Nietzsche“. Ambivalent sieht sie die Ausdehnung des Gewaltbegriffs: Einerseits sei diese in vielerlei Hinsicht positiv und ein Fortschritt, sodass auch verbale Gewalt anerkannt wird. Sprache könne verletzen, zerstören. Doch das Problem sei, dass unklar wird, wo die Grenze des Zumutbaren verläuft. Gut sehen könne man dies an der Subjektivierung des Traumabegriffs. Die beste Widerstandskraft gegen den Hass und auch gegen die Versteinerung sei, sich die Lebendigkeit zu bewahren. „Wir müssen offen bleiben, auch und gerade denen gegenüber, die uns hassen. Wenn wir es schaffen, die Sensibilität in uns zu erhalten, dann sind wir von innen geschützt.“
Vom Hass auf die Moral und das Miteinander-Reden in Zeiten des Hasses
Am Sonntagvormittag referierte Alexander Somek, Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, über „Hassrede: Der Hass auf die Moral“. Dabei konzentrierte er sich auf „die harmloseste Art von Hassrede“, die keine gefährliche Drohung, Verleumdung und auch keinen Aufruf zur Gewalt gegen bestimmte Personen oder Angehörigen von Gruppen einschließt. Zunächst ergründete er, warum die Hassrede in ihrem gruppenbezogenen Kern doppeltes Unbehagen hervorruft. Einerseits bei jenen, über die herabwürdigend gesprochen wird. „Unbehagen rufen aber ebenso die kraft Indignation reflexartig verlangten oder verhängten Redeverbote hervor.“ Daraus leitete er ab, dass in der Hassrede auch so etwas wie der Hass auf die „gute Moral“ zum Ausdruck kommen könnte. An sich ermögliche das Recht den Ausstieg aus der Moral, doch weil die Moral das Recht nicht aus ihren Fängen entlässt, bleibe nur der Ausstieg aus dem Recht – hin zum Theatralischen und damit in die Kunst. Beim Sprechen sei das Theater bzw. das Spiel die Ironie. „Wir urteilen, wenn wir uns im Medium von Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit bewegen, ästhetisch“, so Somek.
Das Finale bestritt Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen und bekannt durch seine Arbeiten zur Skandalforschung sowie seine Bücher mit dem Kybernetiker Heinz von Foerster und dem Psychologen Friedemann Schulz von Thun. Sein Beitrag stand unter dem Titel „Miteinander-Reden in Zeiten des Hasses“. „Kommunikation ist nicht alles – aber alles ist nichts ohne Kommunikation. Wir werden keine einzige Gegenwartskries lösen können, ohne einen gemeinsamen Fokus zu erzeugen durch Kommunikation“, proklamierte Pörksen zu Beginn. Außerdem gehe man nicht fehl darin, dass das Reden erstens schwieriger wird, zweitens wichtiger wird und drittens effektiver werden müsse. Den ersten Teil seiner engagierten, frei gehaltenen Rede nannte er einen „Versuch der konzeptionellen Diskursentgiftung, indem drei Diskursmythen beiseite geräumt werden“. Der erste ist der Untergangsmythos, die Rede vom postfaktischen Zeitalter, das Pörksen vielmehr als Zeitalter der Gleichzeitigkeit bezeichnen würde. Es gelte, sich die Welt der Hater als das vorzustellen, was sie ist – eine kleine Minderheit! Das Zweite ist der Filterblasenmythos, der nahelegt, dass die Schwierigkeiten des Miteinander-Redens durch Algorithmen bedingt, somit durch dieselben auch zu lösen seien. Zwar gebe es Filterblasen in dem Sinn, dass man sich in seine Echokammer zurückziehen könne, andererseits könnten wir unter den vernetzten Bedingungen dem Denken, der Perspektiven anderer nicht ausweichen, so Pörksen. Daher spricht er vom Filter-Clash und betont: „Für das gelingende Miteiander-Leben braucht es nicht bessere Algorithmen, sondern geklärte Kontexte, Behutsamkeit, Möglichkeiten der gelingenden Kooperation.“ Als Drittes entlarvte er den Polarisierungsmythos als eine Überinszenierung von Polarisierung zum einen und zu wenig ernsthafte Polarisierung zum anderen. Statt Spektakel-Polarisierung bedürfte es pragmatischer Polarisierung. Im zweiten Teil verwies der Medienwissenschaftler auf vier Prinzipien, die idealerweise einen Fingerzeig liefern, was man tun könnte. Erstens das Prinzip der öffnenden Wertschätzung, soll heißen ein Respekt vermittelndes Zugehen auf das Gegenüber. Zweitens das Prinzip der Perspektivenverschränkung, heißt erst einmal das Universum des anderen studieren und dann eine Art von Brückennarrativ schaffen, das auch in dessen Welt plausibel ist. Drittens das Prinzip der nichtkonzentrischen Aufmerksamkeit, weg von der egozentrischen, um sich einzulassen auf die Weltsicht des anderen. Viertens das Prinzip der respektvollen Konfrontation, heißt einen Dialog zu führen, der diesen Namen verdient – oder wie Pörksen es nannte: „einen gemeinsamen Tanz des Denkens“. Dabei sei durchaus das Umschalten von der Empathie auf Konfrontation möglich, wenn nicht angebracht, doch ohne die Person des anderen als Ganzes zu kritisieren. „Nicht gleichgültig zu sein, das ist das Wichtigste.“ Der mit großem Applaus bedachte Vortrag eines der bedeutendsten Medienwissenschaftler unserer Zeit war ein würdiger Schlusspunkt des Jubiläums – ein Vierteljahrhundert bereichernder Gedankenaustausch im Gebirge.
Das 26. Philosophicum Lech findet vom 19. bis 24 September 2023 statt und lädt unter dem vielversprechenden Titel „Alles wird gut. Zur Dialektik der Hoffnung“ zum anregenden Austausch nach Lech am Arlberg. Aufgrund des zu erwartenden Publikumsandrangs empfiehlt sich eine frühzeitige Anmeldung online ab 03.04.2023!
Weitere Informationen auf www.philosophicum.com
Presseaussendung als PDF: PHI-2022_Nachschau-26.09.22