Von fesselnden Vorträgen und früher Vorfreude – das war das 18. Philosophicum Lech
Der traditionelle Vorarlberg Brunch setzte gestern den festlich-kulinarischen Schlusspunkt unter das 18. Philosophicum Lech. Zuvor stellten exzellente Vorträge noch einmal den intellektuellen Anspruch und interdisziplinären Charakter des Symposiums unter Beweis. Nach vier Tagen des geistigen Austausches und erholsamen Ausspannens in alpinen Höhen wurde von den Teilnehmern ein durchwegs positives Resümee gezogen und mit Spannung das Thema für das nächste Jahr erwartet.
„Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell hier die Zeit vergeht. Wie viel Aspekte angesprochen werden, die man gerne noch weiterdiskutieren würde. Aber auch die schönsten Tagungen gehen irgendwann zu Ende“, zog Konrad Paul Liessmann, der wissenschaftliche Leiter des Philosophicum Lech, gestern Vormittag Bilanz. Gegen aufkommende Wehmut standen noch zwei Vorträge von hochkarätigen Referenten sowie der festliche Ausklang beim Vorarlberg Brunch auf dem Programm. Zudem tröstet das jedes Mal mit Spannung erwartete Thema des folgenden Jahres über die Abreise aus dem schönen Lech, zumindest den Schlusspunkt des Symposiums hinweg. Es ist die fast schon familiäre Atmosphäre und der einzigartige Reiz des Philosophicums, dass der Abschied nicht leicht fällt. Eine Kombination aus intensivem intellektuellen Austausch, erholsamen Urlaubstagen und der Gelegenheit zu neuen Bekanntschaften.
Augenfällig ist der hohe Anteil an Stammgästen, an Teilnehmern, die so gut wie jedes Jahr wiederkehren – und umso enttäuschter wären, wenn sich die Veranstaltung bereits als ausgebucht erweisen würde. So sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass am 1. April 2015 auf der Website des Philosophicum (http://www.philosophicum.com) die Anmeldung freigeschalten wird. Dass sich das Symposium auch noch im 18. Jahr seines Bestehens steigender Beliebtheit erfreut, hat zahlreiche Gründe. Einer davon ist zweifellos die perfekte Organisation, wie Ludwig Muxel, der Bürgermeister von Lech, bei seiner Abschlussrede anmerkte. Sein Dank galt somit sämtlichen dafür Verantwortlichen wie auch den Referenten, deren Vorträge durchwegs auf positive Resonanz stießen, für angeregte Diskussionen sorgten und das Thema „Schuld und Sühne. Nach dem Ende der Verantwortung“ ebenso fachlich fundiert wie insgesamt breit gefächert thematisierten.
Es ist einer der Erfolgsfaktoren des Philosophicums, dass es sich als eines der wenigen wirklich interdisziplinären Symposien erweist. Illustrieren lässt sich dies allein schon anhand der Themenfolge am Samstag. Eingeleitet wurde diese mit dem Referat von Barbara Bleisch, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ethik-Zentrum der Universität Zürich sowie Redakteurin und Moderatorin der „Sternstunde Philosophie“ des Schweizer Fernsehens. Unter dem Titel „Mitgegangen – mitgehangen? Verantwortung für globales Unrecht“ gab sie einen Überblick über die diversen Thesen hinsichtlich der moralischen „Verstrickungen“ in bedenkliche Verhältnisse oder Entwicklungen, sei es als wirtschaftlicher Akteur oder „bloßer“ Konsument. „Verantwortlich ist nicht nur wer vorsätzlich, sondern auch, wer fahrlässig handelt“, verwies sie zum Beispiel auf die Notwendigkeit einer internationalen Institutionalisierung des Sorgfaltsprinzips.
Ebenso pointiert wie profiliert bezog anschließend der bekannte deutsche Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer gegenüber Entwicklungen des digitalen Zeitalters Stellung. Zunächst illustrierte er das „Shifting-Baseline-Syndrom“, welches das Phänomen verzerrter und eingeschränkter Wahrnehmung vom Wandel (ob des Klimas, des technischen Fortschritts oder gesellschaftlicher Verhältnisse) bezeichnet, an einem historischen, betroffen machenden Beispiel: Hätte die Deportation der Juden schon kurz nach der Machtübernahme des Nazi-Regimes 1933 begonnen, wäre zumindest bei einem Teil der Bevölkerung moralische Empörung wohl nicht ausgeblieben. Nur acht Jahre später: Stillschweigen, wenn nicht Akklamation. Trotz der Allmacht des totalitären Regimes gab es jedoch kleine soziale Netze, „Residuen der Privatheit“, die für Verfolgte ein Überleben, auch Widerstand ermöglichten. Und was lässt sich daraus bezüglich des „Totalitarismus“ der dominierenden IT-Konzerne und der Mitmachgesellschaft ableiten?
Welzers deutliche Mahnung angesichts des (uns allen größtenteils unbewussten) gesellschaftlich-sozialen Wandels in neuester Zeit löste höchst kontroverse, sprich heiße Debatten aus. Umso gelegener das folgende Referat von Ludger Heidbrink, Professor für Praktische Philosophie an der Universität Kiel, das unter anderem Licht in die „Diffusion der Verantwortung“ brachte. In Zeiten steigender Verantwortungsanforderungen und der Entgrenzung des Verantwortungshorizonts, wie wir sie heutzutage erleben, so Heidbrink, steigt auch die Verantwortungsabwehr. „Der Liberalismus begünstigt und fördert die Flucht aus der Verantwortung.“ Im Rahmen seines differenzierten Überblicks über Strategien, wie mit – vermeintlicher und echter – Verantwortung umgegangen wird, schälte er schließlich die Begriffs-Opposition gerechtfertigte Unverantwortlichkeit einerseits und die ungerechtfertigte Verantwortungslosigkeit andererseits heraus.
Unter anderem Blickwinkel, doch den Vortrag von Heidbrink perfekt ergänzend, unterzog beim zweiten Referat des Samstag Nachmittags Reinhard Merkel die Frage der individuellen Verantwortung, genauer gesagt der Schuldfähigkeit einer Analyse. Dabei bot der Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, der in deutschen Medien als streitbarer Kommentator aktueller politischer Fragen bekannt ist, sozusagen eine kompakte Einführung in die Rechtsphilosophie, insbesondere was das vieldiskutierte Problem der Willensfreiheit als Grundlage des Schuldvorwurfs betrifft. Nachdem er ein Panorama der diversen Standpunkte in Bezug auf „die Opposition“ Willensfreiheit versus Determinismus entwickelt hatte, lautete ein Fazit: Die Naturwissenschaften können das „Freiheitsproblem“ nicht lösen, weshalb dieses den Philosophen überbleibt. Wieder eine ideale thematische Brücke hin zum folgenden Tag.
„Nachdem Reinhard Merkel gestern aus rechtsphilosophischer Sicht die Fragen von Willensfreiheit und Verantwortlichkeit dargestellt, vor allem aber auch eine Einordnung der neurobiologischen Diskussion in diese Problematik vorgenommen hat, werde ich letztere heute etwas hintanstellen“, leitete Henning Saß, prominenter Facharzt für Psychiatrie sowie Forensisch-psychiatrischer Gutachter am Sonntag Vormittag seine Ausführungen ein. In Konzentration auf die Psychopathologie, gab er zunächst einen historischen Abriss über dieselbe und ging dabei insbesondere auf Karl Jaspers als einen von deren Vätern ein. Auf diesen geht auch eine grundlegende Unterscheidung zurück: zwischen Erklären als naturwissenschaftlicher Ansatz (Bildgebung, Molekularbiologie, Wirkung der Medikamente etc.) und Verstehen als der geisteswissenschaftliche Aspekt, durch das Gespräch mit und Einfühlen in den Klienten.
Besonderes Interesse fanden die Beispiele von Saß aus seiner Praxis als forensischer Gutachter, wie zum Beispiel den aktuellen Fall des sogenannten „Autobahnschützen“ in Deutschland. Im Anschluss übernahm schließlich mit Gerhard Roth einer der führenden Hirnforscher unserer Tage das Wort. Anschaulich und auch für Laien verständlich, gab er faszinierende Einblicke in sein Forschungsfeld und passend zu den vorangegangenen Referaten neurobiologische Erklärungen für psychopathologisches Verhalten. Seine Erläuterungen reichten vom Motiv-Determinismus (für jede Tag gibt es einen Grund) über die Beschreibung eines klassischen Psychopathen anhand der Person Adolf Hitlers bis hin zu der Erkenntnis, dass positive Bindungserfahrungen noch am ehesten psychopathologische Tendenzen dämpfen können. Gerhard Roths spannender Vortrag war ein würdiges Finale und krönender Abschluss des 18. Philosophicums Lech.
Das 19. Philosophicum Lech findet vom 16. – 20. September 2015 statt.
Das Thema lautet: „Neue Menschen! Bilden, optimieren, perfektionieren.“
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