Presseinformation – Vortragsreihe des 24. Philosophicum Lech und kurze Vorschau auf 2022
Lech, 2021-09-27
Vom faketionalen Erzählen über geistlose Traumfabriken bis zum politischen Fiktionalismus, Astrophysik und Todesalgorithmen
„Als ob! Die Kraft der Fiktion“, so das Thema des 24. Philosophicum Lech, erwies sich als starker Impuls für neue Denkansätze und außergewöhnliche Perspektiven. Namhafte Philosophen, Kultur-, Natur- und Sozialwissenschaftler sorgten für eine breitgefächerte transdisziplinäre Betrachtung, hohe fachliche Expertise und spannende Diskussionen. Erneut bestätigte die internationale Tagung vom 22. bis 26. September 2021 ihren Ruf als ein Garant für gehaltvolle Auseinandersetzung mit brennenden Fragen der Zeit. Die Gastgebergemeinde Lech am Arlberg präsentierte sich bei schönstem Herbstwetter auch am neuen Veranstaltungsort sport.park.lech als idealer Rahmen.
Bei seinen abschließenden Worten am Sonntagmittag konnte der neue Obmann des Vereins Philosophicum Lech Ludwig Muxel eine durchwegs positive Bilanz ziehen. Nachdem die Tagung im letzten Jahr pandemiebedingt verschoben werden musste, fungierte heuer der sport.park.lech als neuer Veranstaltungsort und erwies sich dank der Räumlichkeiten sowie technischen Ausstattung nicht nur in puncto durchdachtes Sicherheitskonzept als die richtige Wahl. Direkt am namensgebenden Gebirgsfluss gelegen, konnte in der Grünanlage während der Pausen die Herbstsonne genossen werden, was Gelegenheit zum Sinnieren wie auch zu anregenden Diskussionen gab. Die positive Resonanz bei den Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmern aus dem gesamten deutschsprachigen Raum lässt das Organisationsteam bereits positiv ins kommende Jahr blicken. Begeisterung rief vor allem das heurige Programm hervor.
So wurde beschlossen, die neue Veranstaltung „Philosophicum Dialoge“ im Vorfeld des Symposiums, am Dienstag, auch kommendes Jahr wieder abzuhalten. Und zwar zu einer vom Tagungsthema unabhängigen, brisanten Materie, mit der sich wieder prominente Diskutantinnen und Diskutanten auseinandersetzen werden. Wie auch aufgrund des bereits traditionellen, beliebten philosophisch-literarische Vorabend am Mittwoch bietet sich ein Grund mehr, einige Tage früher zum Symposium anzureisen und sich darauf einzustimmen. Zu den weiteren Highlights im Rahmenprogramm zählt die alljährliche feierliche Verleihung des Tractatus – Essaypreis des Philosophicum Lech, bei der dieses Mal auch der Preisträger des Vorjahres anwesend war und schließlich am Sonntag mit seinem Referat einen fulminanten Schlusspunkt setzen sollte.
Diesem voraus ging eine Vortragsreihe, die wie bewährt transdisziplinär angelegt war und unter dem Titel „Als ob! Die Kraft der Fiktion“ für eine überaus breite und wechselvolle, aber auch wechselseitige Betrachtung des Jahresthemas bürgte. Selbiges war bereits für das Vorjahr geplant, hatte jedoch nichts an Aktualität eingebüßt, im Gegenteil. Nicht nur durch kluge Voraussicht wird seit Beginn an die Aktualität, Qualität und Charakteristik des Philosophicum Lech von dessen wissenschaftlichen Leiter geprägt. So bedankte sich Vereinsobmann Ludwig Muxel an erster Stelle bei Konrad Paul Liessmann, „der mit dem diesjährigen Programm wieder einmal seine außerordentliche Kompetenz und seinen Feinsinn unter Beweis gestellt hat“. Die Vorträge wurden vom Auditorium durchgängig als exzellent bewertet. Dass sämtliche Referentinnen und Referenten ihre Zusage vom Vorjahr erneuerten, zeugt nicht zuletzt von der hohen Reputation des Philosophicum Lech. Dass nicht wenige von ihnen an der gesamten Tagung teilnahmen, darf zudem auch auf die Gastlichkeit und Attraktivität von Lech am Arlberg zurückgeführt werden. Angetan von der Tagung wie auch dem Ort zeigte sich etwa Jan Assmann, der als einer der bedeutendsten Religions- und Kulturwissenschaftler unserer Zeit am Donnerstag den Auftakt zu der Vortragsreihe des Philosophicum Lech 2021 gab.
Über das faketionale Erzählen – und die Wahrheit der Phantasie
Den Eröffnungsvortrag am Freitag, den 24. September hielt Thomas Strässle, Leiter des spartenübergreifenden Y Instituts an der Hochschule der Künste Bern, Professor für Neuere deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und Präsident der Max Frisch-Stiftung an der ETH Zürich. Unter dem Titel „Faketionales Erzählen. Über die Erfindung der Wahrheit“, widmete er sich dem Fake als Form der Fiktion, wie sie gegenwärtig äußerst brisant geworden ist. Die Disziplin mit der längsten Erfahrung in der Beschreibung fiktionaler Texte und stark ausdifferenziertem Instrumentarium ist die Literaturwissenschaft. Allerdings gibt es auf der Ebene des Textes kein verbindliches Kriterium, wie man einen fiktionalen von einem faktualen, sprich auf Fakten beruhenden Text unterscheiden kann. „Und das ist eine Katastrophe“, wie der Literaturwissenschaftler betonte. Mit der Theorie des „faketionalen Erzählens“ – ein Begriff, der von ihm kreiert wurde – geht er dem Phänomen des Fakes verstärkt auf den Grund, ist er doch überzeugt, dass die Literaturwissenschaft diesbezüglich auch eine politische Funktion erhalten kann.
Das zweite Referat am Freitagvormittag hielt die Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Essayistin (u. a. für FAZ, FALTER, Die Furche, Der Standard und Die ZEIT) Daniela Strigl, Dozentin am Institut für Germanistik der Universität Wien. Zum Thema Biografie und Fiktion lautete der Titel „Abgeschrieben kann das Leben nie werden“ – ein Zitat der bedeutenden Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts Marie von Ebner-Eschenbach, über die Strigl eine mittlerweile als Standardwerk geltende Biografie („Berühmtsein ist nichts“, 2016) verfasst hat. Anhand ihrer praktischen Erfahrungen – Strigl schrieb auch eine Biografie über die österreichische Literatin Marlen Haushofer – sowie auf Basis literaturtheoretischer Reflexionen gab sie spannende Einblicke in die Herausforderungen, Tücken und Unwägbarkeiten des biografischen Schreibens. So etwa die Erkenntnis, dass es „die Wahrheit“ bei der Annäherung an ein fremdes Leben nicht geben kann, weshalb sich die Frage stellt, welche Verantwortung der Biograph gegenüber seinem Gegenstand hat. Es sei u. a. wichtig, Recherche und Deutung nach allen Seiten hin offen zu halten sowie keinen Aspekt unverhältnismäßig zu betonen. „Das Leben nicht abschreiben zu können bedeutet das Leben schreiben zu müssen. Wir erzählen das wirklich gelebte Leben, als wäre das möglich, wir bewegen uns in einem unausgesprochenen „Als ob“, so Strigl, denn keine Biografie komme ohne die Wahrheit der Phantasie aus.
Zu Phantasmagorien der Bildungsreform – sowie zur Kraft der Fiktion
Am Freitagnachmittag referierte zunächst der Philosoph, Pädagoge und Publizist Matthias Burchardt, Akademischer Rat am Lehrstuhl für historisch-systematische Pädagogik an der Universität zu Köln und Mitbegründer sowie Geschäftsführer der Gesellschaft für Bildung und Wissen, über „Geistlose Traumfabriken und Phantasmagorien der Bildungsreform“. Wie er einleitend anmerkte, hatte er bewusst einen zweideutigen Titel gewählt, der sich sowohl auf die Bildungsstätten der Gegenwart beziehen lässt als auch auf jene Institutionen bzw. Organisationen, die durch die von ihnen angestoßenen Reformen für den Charakter ersterer verantwortlich sind. Bei seiner fundamentalen Kritik an den letzten 20 Jahren der Bildungspolitik bzw. „den politischen Machenschaften“, wie Burchardt es nannte, zeichnete er deren Strategie, die dahinterstehende Ideologie wie auch die Folgen nach. Bereits 1961 stand in Strategiepapieren der OECD zu lesen: „Erziehung ist wirtschaftliche Investition in Menschen“. Das Bild vom Menschen als Humankapital ist mittlerweile in den Köpfen festverankert. Am Anfang stand eine Negativkampagne, als ob es eine Bildungskrise gäbe. Als probates Mittel erwies sich der PISA-Test, dessen Ergebnisse innerhalb kurzer Zeit zu dem Qualitätskriterium für das jeweilige nationale Bildungssystem wurden. „Ein Test kann allerdings nicht nur dazu dienen, Wirklichkeit zu registrieren, sondern auch dazu, Wirklichkeit zu konstruieren“, so der Bildungsexperte, der nicht nur die Zahlenmagie zu entzaubern wusste.
Den Schlusspunkt am Freitag setzte Konrad Paul Liessmann mit seinem fulminanten Impulsreferat „So tun als ob. Die Kraft der Fiktion“. Üblicherweise den Vortragsreigen einleitend, tauschte der Vortrag heuer aus terminlichen Gründen den Platz mit jenem von Jan Assmann. Nichtsdestoweniger brachte der wissenschaftliche Leiter des Philosophicum Lech wieder grundlegende Hypothesen, Argumente und Leitmotive in die Diskussion ein. Dabei rekurrierte er auf das 1911 veröffentlichte und „bis heute weit unterschätzte“ Werk „Philosophie des Als ob“ des Philosophen Hans Vaihinger, der selbst die Grundbegriffe der Naturwissenschaften als Fiktionen im Sinne zweckdienlicher Konstruktionen begriff. „Um bei der Lösung mancher Probleme weiterzukommen, müssen wir mit Unterstellungen, Annahmen, Fiktionen oder, um einen modernen Begriff zu verwenden, Modellen arbeiten. Diese fingierten Konzepte dürfen aber weder mit Hypothesen auf der einen noch mit Illusionen oder Täuschungen auf der anderen Seite verwechselt werden“, wie Liessmann erläuterte. Im Gegensatz zur heute weitverbreiteten Ansicht gebe es auch keine moralischen Tatsachen oder Wahrheiten, wohl aber moralische Fiktionen. Ethische Leitbegriffe sind keine Beschreibung der Wirklichkeit, sondern normativ aufgeladene Entwürfe, Vorstellungen, Konstruktionen, die es erlauben, manche Aspekte sozialen Lebens anders zu sehen und vor allem anders zu bewerten. Die Entschlüsselung von Fiktionen als heuristische, sprich neue Erkenntnisse fördernde Konstruktionen bildete auch den Ausgangspunkt für Argumentationsketten der darauffolgenden Referate.
Vom politischen Fiktionalismus über Astrophysik bis zum Todesalgorithmus
Der Samstag startete mit einem Referat von Andreas Urs Sommer, Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, unter dem Titel „Politischer Fiktionalismus. Zur direkten Zukunft der Demokratie“. In diesem stellte er als hoffnungsstiftende Fiktion die Stärken einer direkt-partizipatorischen Demokratie vor, wobei die Demokratiewende durch Selbstzweifel und Teilnahmetraining befördert wird. Im Anschluss daran beantwortete Lambert Wiesing, Professor für Bildtheorie und Phänomenologie im Institut für Philosophie an der Universität Jena, die Frage „Wie können Bilder zu Fiktionen werden?“. Nachdem er zunächst erläuterte, inwiefern laut gängiger philosophischer Bildtheorie jedes Bild an sich eine Fiktion ist, wodurch es uns vom Zwang befreit, nur sehen zu können, was real ist, fokussierte er sich auf die digitale Fotografie, welche eigentlich digitale Malerei genannt werden sollte. Das analoge Foto ist nämlich keine Fiktion, da es eine physikalische Spur des Dargestellten ist, während wir es durch die Digitalisierung immer häufiger mit Illusionen zu tun haben – aber nicht einer Sache, sondern eines Mediums. Gemeint sind Als-ob-Fotografien von irrealen Sachen wie etwa eines monströsen Cyborgs.
Da der für Samstagnachmittag geplante Vortrag von Dietmar Dath krankheitsbedingt kurzfristig abgesagt werden musste, sprang Barbara Bleisch in die Bresche. Die Dozentin für Philosophie und Ethik an mehreren Universitäten, Mitglied der Tractatus-Jury, stellte sich und dem Publikum die Frage „Echtheit – ein Wert?“. Vom Beispiel des werthaltigen Unterschieds von Original und Kopie in der Kunst führten ihre Gedankengänge hin zur Authentizität im Zwischenmenschlichen, wofür die Selbsterkenntnis eine unabdingbare Voraussetzung sei. „Echt zu sein, heißt nichts anderes, als seinen besten Seiten treu und eingedenk zu leben“, so die Moralphilosophin. Abgeschlossen wurde die Vortragsreihe am Samstag von der Astrophysikerin und Wissenschaftsredakteurin im Feuilleton der FAZ, Sibylle Anderl. Unter dem Titel „Die Erforschung des Kosmos zwischen Fiktion und Empirie“ bot sie spannende Einblicke in den aktuellen Wissenstand, vom Urknall bis hin zur Dunklen Materie, die im aktuellen teilchenphysikalischen Standardmodell bislang noch keinen Platz hat, oder auch der Dunklen Energie, die wiederum erklären soll, warum unser Kosmos sich beschleunigt ausdehnt. „Bislang werfen beide Phänomene noch viele Fragen auf, bei deren Beantwortung wir frustrierend langsam vorankommen“, so die Astrophysikerin Anderl.
Am Sonntagvormittag referierte die Kulturwissenschaftlerin Sophie Wennerscheid, Professorin für skandinavische Literatur am Institut für Nordische Studien und Sprachwissenschaft an der Universität Kopenhagen, über „Illusion, Phantasma, Fake? Liebe in künstlichen Welten“. Einleitend analysierte sie, inwiefern Beziehungen zwischen Menschen und humanoiden Robotern oder anderen künstlichen Figuren als schmerzfrei und deshalb kalt im Sinne von Eva Illouz Theorie der entemotionalisierten Partnerwahl auf Online-Plattformen zu bestimmen sind. Ihre Ausführungen mündeten in der Überlegung, ob nicht gerade die Partnerschaft im Modus des „Als-ob“ auf ein Beziehungsmodell verweist, das sich dem vermeintlich Faktischen entzieht und als produktive Kraft der Veränderung wirkt. Als Finale folgte der Vortrag des Tractatus-Preisträgers 2020, des freien Autors Roberto Simanowski, renommierter Kultur- und Medienwissenschaftler sowie Gründer und Herausgeber des Online-Journals für digitale Literatur dichtung-digital. Mit starkem Bezug auf sein im letzten Jahr mit dem Tractatus prämiertes Werk entwarf er unter dem Titel „Todesalgorithmus. Die Fiktionen der künstlichen Intelligenz“ ein Zukunftsszenario, in dem wir unsere Entscheidungsmacht sowohl als Individuum als auch als Gesellschaft der KI abgetreten haben, da diese frei von menschlichen Schwächen ist. Der Digitalexperte versteht die von ihm entworfene Dystopie einer Diktatur purer Rationalität als ein Denken oder Spekulieren auf Vorrat, ohne das sich Zukunft nicht fassen lasse. „Wer sich an das hält, was ist, bremst zu früh und verspielt die Aussicht, Gefahren und Chancen zu erkennen, bevor sie entstehen“, so Simanowski.
Wie gewohnt werden wieder sämtliche Vorträge des Philosophicum 2021 in einem Sammelband beim Paul Zsolnay Verlag erscheinen. Zudem können sie als Audio-CD bei Carpe diem – Kongressdokumentationbestellt werden.
Das Thema des Philosophicum Lech 2022
Das 25. Philosophicum Lech findet vom 20. bis 25 Semptember 2022 statt und widmet sich dem Thema „Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls“. Beim Jubiläum ist wieder mit einem starken Publikumsandrang zu rechnen, weshalb eine frühzeitige Anmeldung (online ab Montag, 4. April 2022) empfohlen wird!
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