24. September 2022
Lech, 2022-09-23
Feierliche Verleihung des Essaypreises des Philosophicum Lech – Tractatus 2022 an die Autorin und Übersetzerin Maria Luise Knott
Gestern Abend erfolgte im Rahmen des 25. Philosophicum Lech die feierliche Verleihung des Tractatus 2022. Exemplarisch prämiert mit dem renommierten Essaypreis wird das Buch „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison“ der freien Autorin, Kritikerin und Übersetzerin Marie Luise Knott. In ihrem Essay setzt die Tractatus-Preisträgerin die Gedankenwelt der deutsch-jüdisch-amerikanischen Philosophin jener des afroamerikanischen Schriftstellers wechselseitig in Beziehung, wodurch sich vor historischer Folie neue Perspektiven auf derzeit hochbrisante Debatten wie zu Identitätspolitik und Rassismus eröffnen. „Was vermag Philosophie Schöneres, als im Für und Wider, im Hin und Her das Denken voranzubringen?“, lobte Laudatorin Barbara Bleisch den Mut, Widersprüchliches stehen zu lassen, statt es zu glätten. Knott bewies auch in ihrer Dankesrede – als Essay – ihre literarische Kunstfertigkeit.
Am Freitag, den 23. September, um 21 Uhr wurde zur feierlichen Verleihung des Tractatus 2022 in den sport.park.lech geladen. Im Rahmen des 25. Philosophicum Lech, das vom 20. bis 25. September unter dem Titel „Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls“ wieder Vortragende und Teilnehmende aus dem gesamten deutschen Sprachraum über brennende Fragen der Gegenwart diskutieren lässt, wurde der Ehrung der Preisträgerin wieder besondere Aufmerksamkeit zuteil. Zählt doch der traditionell am Freitagabend stattfindende Festakt seit vielen Jahren zu den alljährlichen Glanzlichtern des Symposiums. Begründen lässt sich dies insbesondere durch die geistige wie auch stilistische Brillanz der mit dem Tractatus bedachten Autorinnen und Autoren, die meist auch in den Dankesreden zur Geltung kommt. Dasselbe kann von den vorausgehenden Laudationen eines der Jury-Mitglieder behauptet werden. So ist die Tractatus-Verleihung stets ein intellektueller Genuss.
Angeregt von Michael Köhlmeier wird der Essaypreis des Philosophicum Lech seit 2009 vergeben und gehört mit 25.000 Euro zu den höchstdotierten auf diesem Felde im deutschsprachigen Raum. So galt auch heuer wieder ein besonderer Dank von Ludwig Muxel, Obmann des Vereins Philosophicum Lech, den privaten Sponsoren, die anonym bleiben möchten. Hoch ist auch das Renommee des Tractatus, mit dem die Absicht verfolgt wird, herausragenden Leistungen im Bereich der philosophischen Essayistik und Wissenschaftsprosa die verdiente Anerkennung zukommen zu lassen und damit den prämierten Publikationen verstärkt Wertschätzung und Geltung zu verschaffen. Ebenfalls hoch sind die Anforderungen, um in die engere Auswahl für den Tractatus zu kommen. Zentrale Kriterien sind die Originalität des Denkansatzes, die Gelungenheit der sprachlichen Gestaltung sowie die Relevanz des Themas. Der Vorauswahl im Frühjahr, die in eine jeweils Anfang Juli veröffentlichte Tractatus-Shortlist von preisverdächtigen und somit empfehlenswerten Neuerscheinungen der letzten 12 Monate mündet, folgt eine weitere intensive Jurydiskussion im Sommer. Die Jury setzt sich zusammen aus der Schweizer Philosophin Barbara Bleisch, u. a. Moderatorin der Sendung „Sternstunde Philosophie“ im Radio und Fernsehen SRF, dem aus Österreich stammenden Autor und Journalisten Thomas Vašek, Gründungschefredakteur der Philosophiezeitschrift „Hohe Luft“, und dem deutschen Schriftsteller und Essayisten Michael Krüger, ehemaliger Verlagsleiter der Carl Hanser Literaturverlage, unter Vorsitz (nicht stimmberechtigt) von Konrad Paul Liessmann, dem wissenschaftlichen Leiter des Philosophicum Lech.
Preisträgerin des Tractatus 2022 ist die deutsche Autorin Marie Luise Knott
Exemplarisch prämiert mit dem Tractatus 2022 wird das Buch „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison“ der in Berlin lebenden freien Autorin, Kritikerin und Übersetzerin Marie Luise Knott. Titelgebend für das im März 2022 im Verlag Matthes & Seitz Berlin erschienene Buch ist der Zufall, dass die berühmte jüdische Philosophin, die 1941 in die USA emigrierte, und einer der wichtigsten afroamerikanischen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts hinsichtlich ihrer Hausnummern nur einen Zahlendreher entfernt in derselben Straße wohnten: Hannah Arendt in der Nähe der Columbia University und Ralph Waldo Ellison weiter nördlich in Harlem. Das die beiden tatsächlich Verbindende als Ausgangspunkt für Knotts ideengeschichtlichen Essay ist eine damalige Debatte, zu der erst vor Kurzem ein Brief Arendts an Ellison als Durchschlag in ihrem Nachlass aufgefunden wurde. In diesem leistet sie Abbitte für ihre Unbedachtheit in einem 1959 veröffentlichten Aufsatz, in dem sie zu den Ereignissen in Little Rock im Jahre 1957 Stellung nahm. Damals musste die Nationalgarde einschreiten, als Protestierende höchst aggressiv schwarze Jugendliche am Schulbesuch hindern wollten. Ellisons scharfe Replik auf die Ausführungen Arendts im Jahre 1965 quittierte sie im Brief mit „Sie haben völlig Recht“ und dem Eingeständnis, dass sie „die Komplexität der Lage nicht verstanden habe“.
Feierliche Verleihung des Tractatus 2022 mit Laudatio von Barbara Bleisch
Moderiert von der Philosophin Katharina Lacina, stand die feierliche Verleihung des Tractatus 2022 am gestrigen Abend ganz im Zeichen gelungener Essayistik. Festliche Atmosphäre für die Ehrung der Tractatus-Preisträgerin Marie Luise Knott schuf insbesondere der musikalische Rahmen: drei eigens für diesen Anlass verfasste Streich-Trio-Stücke des Vorarlberger Komponisten Marcus Nigsch, darunter zwei Uraufführungen, dargeboten vom Ensemble Trio Tractatus. Dem klangvollen Auftakt folgte zunächst die Laudatio von Barbara Bleisch. „Mit der Last, die damit verbunden ist, schwarz zu sein, beginnt das Buch, das wir heute auszeichnen“, bot sie zunächst ein Panorama der historischen Hintergründe und aktuellen Bezüge. Dadurch die Irritation und Ablehnung, die der Essay „Reflections on Little Rock“ von Hannah Arendt aus dem Jahre 1959 damals wie heute auslöst(e), verständlich machend, hob Bleisch die im Brief an Ellison erkennbare geistige Haltung von Arendt hervor. So war es nicht öffentlicher Druck, sondern „vielmehr das bessere Argument, das der Philosophin das Geständnis abringt, sich rundweg geirrt zu haben. Zumindest für diese Geradlinigkeit gebührt Hannah Arendt Achtung – und Marie Luise Knott, die das herausstreicht, ebenso.“ In Bezugnahme auf aktuelle Tendenzen betonte die Laudatorin des Weiteren: „Marie Luise Knott ruft uns damit etwas in Erinnerung, was in einer Zeit, in der die firme Meinung, die klare Haltung Trumpf sind und der Zweifel, das stete Hinterfragen unter Druck geraten, nicht hoch genug gehalten werden kann: Dass die aufrichtige Liebe zur Wahrheit stets mit dem Irrtum rechnen muss.“ Auch dass Gedanken in ihrer Widersprüchlichkeit mutig stehen gelassen werden, lobte sie am Essay von Knott, könnte man dadurch doch die Friktionen zweier Menschen aus solch unterschiedlichen Welten verstehen lernen. Abwechselnd dem Denkschema von Arendt zu folgen und dann wieder in die Perspektive von Ellison zu kippen, lässt tief in die Vorläuferdebatten von „critical whiteness“ eintauchen. „Was vermag Philosophie Schöneres als im Für und Wider, im Hin und Her das Denken voranzubringen?“, so Barbara Bleisch abschließend.
Dankesrede als grandioser Essay der Tractatus-Preisträgerin Marie Luise Knott
Bei den ersten Worten von Marie Luise Knotts Dankesrede begann womöglich so manche und mancher der andächtig Versammelten im Gedächtnis zu kramen. Was für ein Romananfang war das noch mal? „Am Morgen nach dem Aufwachen im Hotel war sie ins Bad gegangen, hatte sich vor dem Spiegel durchs Haar gestrichen und sich dabei prüfend angeschaut.“ Wenngleich sich das Rätsel der sich prüfenden Frau im Bad bald löste – „Sie würde am Abend einen Preis bekommen, und man hatte sie den Gepflogenheiten entsprechend gebeten, eine Dankesrede zu halten.“ – behielt das Erzählen in der dritten Person seinen Reiz. Obendrein gemahnte der Erzählfluss an den berühmten stream of consciousness und mäanderte zwischen mysteriösen Zeilen aus Gertrude Steins langem Erzählgedicht „Winning His Way“, Wittgensteins Traktaten und Aphorismen – „Schau einen Stein an und denk dir, er hat Empfindungen!” – und selbstredend auch, ja vor allem originären, ganz eigenen Gedankensprüngen und -folgen dieser Frau: „Vielleicht wurde etwas vom Schmerz der Anderen vorstellbar, wenn man selbst durchlässig wurde, sich aufraute.“ Während sich die Essayistin Knott beim Verfassen ihrer Dankesrede selbst über die Schulter schaute, ließ sie die Hörerinnen und Zuhörer einen Blick in ihre Notizen und ihre Wortwerkstätte werfen. Außerdem ließ sie diese selbst nach Antworten suchen, auf so manche offengebliebene Frage. „Stattdessen würde sie erwähnen, dass sie das Buch vor allem geschrieben hatte in der Hoffnung auf einen Kollateral-Gewinn: Sie hoffte, indem sie die Zeit und den Denkraum von damals neu untersuchte, ein Instrumentarium für heutige identitäre Debatten zu gewinnen.“ Und ja, „sie würde der Jury am Abend sagen müssen, wie dankbar sie war, dass sie dies gesehen hatte.“ Schließlich habe sie die ganze Zeit während der Arbeit am Buch gewusst, auf welch dünnem Eis sie sich bewegte. Und dass die eigene Sichtweise immer beschränkt ist. Kurz vorm Aufgeben hatten rettende Gespräche neue Impulse geliefert und sie zum Weitermachen bewegt, weswegen sie besonders all jenen danken würde, die ihr so hartnäckig wie freundschaftlich Paroli geboten hatten. „Essays sind ein Wagnis, denn sie suchen nicht nach Aussagen, welche die Leserinnen und Leser getrost nach Hause tragen können. Essays gleichen vielmehr Erkundungsgängen – sprich, sie geben unserem ganzen nicht getrosten Dasein und dem nicht ganz bei Trost sein darin Raum. Und dass jemand solches Schreiben auszeichnete — dafür konnte man nicht laut genug danken.“ So dankte sie, dass es diesen Preis gab, dafür, dass jemand ihn erfunden hatte, und dafür, dass jemand ihn Jahr für Jahr finanzierte. Sie dankte der Jury, ihrem Verleger und dem Verlag sowie nicht zuletzt „allen Lecherinnen und Lechern sowie dem Philosophicum“. Es war spürbar. Wohl die gesamte Zuhörerschaft war ebenfalls von Dank erfüllt. Dankbar dafür, dass die Frau im Bad nach ihrem prüfenden Blick in den Spiegel sich die Bergstiefel angezogen und auf den Weg zur Preisverleihung gemacht hatte. Sie hat die Prüfung bestanden. Stellvertretend für so viele meinte Ludwig Muxel zum Abschluss: „Liebe Frau Knott, Sie sind wahrlich eine würdige Tractatus-Preisträgerin. Herzlichen Glückwunsch!“
Weitere Informationen auf www.philosophicum.com
Pressemeldung als PDF: PHI-2022_PM 4_23.09.22