PM Literaricum Lech – Nicola Steiner, Raoul Schrott und Michael Köhlmeier über das neue Literaturfest
PRESSEMITTEILUNG Literaricum Lech – Nicola Steiner, Raoul Schrott und Michael Köhlmeier über das neue Literaturfest
Lech Zürs am Arlberg, 7. April 2021. Kommenden Sommer feiert das alljährlich stattfindende Literaricum Lech seine Premiere. Vom 8. bis 10. Juli 2021 werden sich namhafte LiteratInnen, KulturwissenschaftlerInnen und LiteraturkennerInnen aus verschiedensten Blickwinkeln einem Klassiker der Weltliteratur widmen. Als Vorschau und Einstimmung auf das neue Literaturfest in Lech am Arlberg wurde dessen wissenschaftliche Leiterin, die schweizerisch-deutsche Kulturjournalistin Nicola Steiner, und die Ideengeber, der Vorarlberger Schriftsteller und Mitinitiator des Philosophicum Lech Michael Köhlmeier sowie der ebenso renommierte österreichische Literat und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott, zum Interview gebeten. Nahezu ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Philosophicum Lech, dessen Erfolgsgeschichte den guten Ruf von Lech am Arlberg als internationaler Treffpunkt für intellektuelle Auseinandersetzung begründete, erfolgt kommenden Sommer der Auftakt zu einem weiteren alljährlichen Symposium. Das Literaricum Lech lädt vom 8. bis 10. Juli 2021 zur breit gefächerten Beschäftigung mit einem Klassiker der Weltliteratur: dem bedeutendsten Schelmenroman des Barocks „Simplicius Simplicissimus“ von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Vorgestellt wird dieser bei der Eröffnungsveranstaltung von Daniel Kehlmann, dessen Roman „Tyll“ ebenfalls im Dreißigjährigen Krieg spielt. Im folgenden Interview geben die wissenschaftliche Leiterin des Literaricum Lech Nicola Steiner sowie die beiden Impuls- und Ideengeber für das Literaturfest, Michael Köhlmeier und Raoul Schrott, u. a. Einblicke in die Konzeption, Zielsetzungen und den besonderen Charakter des Literaricum Lech.
Welch besonderer Reiz oder spezieller Wert liegt für Sie darin, eine Literaturveranstaltung in einem international bekannten Urlaubsort wie Lech am Arlberg abzuhalten?
Nicola Steiner: Es gibt ja bekanntlich nicht wenige Menschen, die in die Berge gehen, um sich den Kopf zu lüften. Die Weite, die freie Sicht, die Natur – all das führt zu Einsichten, die man in der Enge des Tals nicht hätte. Das Glückshormon Oxytocin beflügelt die Wanderer bei anspruchsvollen Touren. Auch die Auseinandersetzung mit guter, also anspruchsvoller, fordernder Literatur ist so etwas wie eine Bergtour – also eine geistige, manchmal sogar physische Tätigkeit, die neben all der Anstrengung und dem Nervenkitzel glücklich machen kann, wenn man den Gipfel erreicht hat. Lech am Arlberg, das bei allen Liebhabern der Berge Assoziationen auslöst, ist für geistige Gipfeltreffen also der ideale Ausgangspunkt.
Michael Köhlmeier: Seit Friedrich Nietzsche wissen wir, dass sich die Philosophie gerne in die Berge zurückzieht – und auch die Literatur. Lech benötigt mich nicht als Werber, um diese wunderbare Landschaft zu loben – das liegt derart in den Sinnen, wenn man dort ist. Ich fühle mich dort jedes Jahr so unglaublich wohl. Und so beschenkt, wenn ich vom Philosophicum zurückkomme. Abgesehen von den höchst interessanten Vorträgen gehört es mit zum Schönsten, zwischendurch andere Teilnehmer zu treffen und sich zu unterhalten. Nach meiner Erfahrung kann man das am besten beim gemeinsamen Spazierengehen oder auch Wandern, und dazu bietet Lech mit seiner schönen Natur nun wahrhaftig viele Gelegenheiten. So stelle ich es mir auch beim Literaricum vor.
Kann also das Philosophicum Lech als Vorbild des Literaricum Lech bezeichnet werden – und stimmt es, dass die Idee zu Letzterem von Raoul Schrott und Ihnen gemeinsam stammt?
Michael Köhlmeier: Ja, Raoul und ich haben die Idee entwickelt. Da wir beide Schriftsteller sind, ist es naheliegend, nach dem Vorbild des Philosophicums auch etwas mit und für die Literatur machen zu wollen. Und aus Erfahrung weiß ich ja, dass die Lecher etwas unheimlich gut können – nämlich Gastgeber zu sein. Ob eine Tagung wirklich gelungen ist und den Tagungsteilnehmern in guter Erinnerung bleibt, hängt natürlich immer von den Vorträgen ab, aber auch das Außenherum spielt eine maßgebliche Rolle. Sprich, dass die Leute sich wohlfühlen. Das funktioniert in Lech in jeder Hinsicht unglaublich gut. Angefangen beim leiblichen Wohl bis hin zu den vielfältigen Gelegenheiten für Gespräche. Wie gesagt, treffe ich während des Philosophicums ständig auf andere Teilnehmer, sei es beim Abendessen am Nebentisch, sei es beim Spazieren durch den Ort. Lech ist sehr überschaubar, bei einer ähnlichen Veranstaltung in einer größeren Stadt würde sich das Ganze verlaufen. Das Philosophicum Lech beschränkt sich nicht allein auf die Veranstaltungen, sondern vom Frühstück weg bis spätabends in der Philosophenbar ist jeder Tag sozusagen erfüllt von Philosophie. Und dafür gibt es kein anderes Beispiel im ganzen deutschen Sprachraum.
Das führt zur nächsten Frage, an Sie alle Drei: Welcher Charakter, welche hervorzuhebenden Aspekte sollen das Literaricum Lech auszeichnen und es womöglich gar einzigartig machen?
Nicola Steiner: Gerade in Zeiten der Unruhe und Orientierungslosigkeit sehnen sich die Menschen nach „ewigen Werten, allgemeinen Wahrheiten und zeitloser Erkenntnis“. Deshalb stellt das Literaricum ein zeitübergreifendes Meisterwerk ins Zentrum, vorgestellt durch den persönlichen Blick eines zeitgenössischen Autors beziehungsweise einer Autorin. Wir versuchen zu ergründen, was dessen Faszination ausmacht. Dafür nehmen wir uns im Frühsommer drei Tage Zeit, um einen Blick in ein Werk der Weltliteratur zu werfen – und weit darüber hinaus. Wir besteigen gemeinsam den Gipfel und halten Ausschau nach allem, was vom Tal aus nicht sichtbar ist.
Raoul Schrott: Es wird ein Literaturfest, das – im Unterschied zu allen anderen, die ich kenne –, nicht auf Tagesaktualität, heißt die Bücher der Saison setzen muss. Zweitens muss auch nicht auf den Publikumszulauf geschielt werden und man sich somit nicht mit Populärem anbiedern, sondern kann sich auf Literatur konzentrieren, die von vornherein von höchster Qualität und zeitlos ist. Es wird auch nicht nur Literatur im üblichen Sinne von Neuerscheinungen in Romanform präsentiert, sondern von einem Literaturverständnis ausgegangen, das international ist und viele Genres umfasst. Ein Themenschwerpunkt ist zum Beispiel das Übersetzen – ebenfalls eine literarische Aktivität.
Michael Köhlmeier: Mir ist die Einzigartigkeit nicht wichtig. Ich möchte mich überhaupt nicht in einen Originalitätsstress begeben. Da besteht die Gefahr, dass man im Exzentrischen endet. Wenn irgendwo eine Literaturveranstaltung gemacht wird, bei der ähnliche Themen in vergleichbarer Art und Weise aufgegriffen werden, dann sage ich: wunderbar. Alles, was die Literatur in irgendeiner Weise fördert, begrüße ich. Wenn dann beim Literaricum Lech Daniel Kehlmann einen Vortrag über den Simplicius Simplicissimus von Grimmelshausen hält, wird der vermutlich unvergleichlich sein. Weil er selbst ein unvergleichlicher Autor, auch ein unvergleichlich guter ist. Ich würde es jedenfalls ganz souverän sehen: dass wir interessante, große Themen und große Literatur von und mit großen Autoren besprechen. Das Originelle an unseren Literaturtagen ist Lech.
Es wurde bereits der weit gefasste Literaturbegriff angesprochen. Wie breit gefächert wird dieser beim Literaricum Lech sein? Anders gefragt: Wie breit gestreut ist das Zielpublikum?
Nicola Steiner: Zielpublikum ist ja ein Begriff aus dem Marketing – das Literaricum hingegen möchte alle Kulturinteressierten ansprechen, Menschen jedes Alters und jeder Herkunft, die mit Neugier und Offenheit durchs Leben gehen. Deshalb geht es nicht nur genuin um Literatur, sondern umspannt alle Genres, die mit literarischen Mitteln arbeiten: neben der Fiktion auch Sachbücher oder Reportagen, Poetry Slam und Jugend-Literatur. Durchaus Unterhaltung also, mit Anspruch und Niveau, ohne Angst vor dem, wo es wehtut. Ein klein wenig anders nach Hause gehen, als man gekommen ist – das ist das Ziel.
Raoul Schrott: Ich denke, was das Publikum anbelangt, brauchen wir uns keine Sorgen machen. Es ist ein willkommenes Angebot für die Urlaubsgäste in Lech und wie beim Philosophicum werden Interessierte auch extra wegen des Literaricums anreisen. Schön wäre es, wenn das Literaturfest in die Umgegend ausstrahlt, also Leute aus den umliegenden Regionen anziehen kann, sei es aus Vorarlberg, Tirol, dem Allgäu oder auch dem deutschen und schweizerischen Bodenseeraum.
Michael Köhlmeier: Am ersten Philosophicum nahmen rund hundert Besucher teil. Wir haben damals gestaunt, wie viele Leute gekommen sind. Es wurden jedes Mal mehr und seit vielen Jahren ist das Symposium spätestens nach zwei, drei Wochen ausgebucht. Anfangs meinten nicht wenige: Eure Idee ist ja schön und gut, aber wer interessiert sich bitte heute noch für Philosophie? Wir haben sie eines Besseren belehrt. Das Bedürfnis ist groß nach geistiger Nahrung und dazu gehört auch die Literatur. Ich bin überzeugt, dass sich das Literaricum Lech ganz ähnlich entwickeln wird und wir innerhalb weniger Jahre auf demselben Stand wie beim Philosophicum sein werden. Und ich vermute, wir werden manchen Freund des Philosophicums auch beim Literaricum wiedersehen.
Was dürfen sich Literaturbegeisterte – egal mit welchen Vorlieben hinsichtlich Gattungen, Genres oder Themen – von der Teilnahme am Literaricum Lech versprechen?
Nicola Steiner: Ich will nicht nur Literaturbegeisterten etwas versprechen. Sondern viel lieber sagen: Schaut einfach vorbei und lasst euch überraschen. Egal, wie viel euch Bücher bedeuten im Alltag. Die meisten sind ja im Urlaub, in Urlaubsstimmung, da findet man leichter aus dem Alltagstrott als im Rest des Jahres. Man erkundet Wanderwege, die man noch gegangen ist, wählt ein Menu auf der Speisekarte, das man noch nicht kennt. Ich will Einblicke bieten in Bereiche, die unser eigenes Leben sonst nie gestreift hätte; ein Erleben und Erfahren von Lebenswelten ermöglichen, die uns sonst verborgen geblieben wären; zu Widerspruch gegen die Welt anregen; und Grenzüberschreitungen in neue Denkformen, Fühlformen und Bewusstseinszustände geben.
Damit sprechen Sie besondere, vielleicht einzigartige Qualitäten von Literatur in engerem Sinne, als Kunstgattung, an. Ganz allgemein gefragt: Wodurch bereichert uns deren Lektüre?
Nicola Steiner: Darf ich ein wenig provozieren? Wer sich diese Frage stellt, und sie war mir einst nicht fremd, der hat vielleicht noch zu wenig gelesen. Irgendwann stellt sich jener Zustand ein, wo ein gutes Buch – ein Kunstwerk also – für sich selber steht, also: nichts muss, nichts bewirken, nichts erreichen, nichts erläutern. Nur ich als Leserin bin gefordert, daraus für mich etwas zu machen. Und wenn dieser Pakt zwischen mir und dem Werk – oder umgekehrt – geschlossen ist, dann erfüllt mich dieses Bündnis – womit wir wieder beim Oxytocin wären.
Michael Köhlmeier: Wissen Sie, jedes Buch, das Sie im Augenblick lesen, ist Gegenwart – sei es der alte Homer, sei es Dante mit seiner Göttlichen Komödie, sei es Goethes Faust. Das Schöne für mich daran – als Mensch, der die Literatur liebt: Es ist eine Versammlung der Lebenden und der Toten. Während ich einen Balzac lese, während er mich begeistern kann, sitzt er da. Er sagt mir seine Sätze. Zu schreiben ist die konservierendste Kunst, die es gibt. Homer ist allgegenwärtig, und Shakespeare ist so frisch, dass er frischer gar nicht sein könnte. Die Literatur ist in der Lage, die totalste aller Trennungen der Natur, nämlich jene zwischen Leben und Tod aufzuheben. Wenn ich etwas verschriftliche, dann verewige ich es. Es kann sein, dass es vorübergehend vergessen wird. Doch dann taucht es auf einmal wieder auf und hat eine unheimliche Aktualität. Wenn Daniel Kehlmann seinen Vortrag über den Simplicissimus hält, dann sitzt Grimmelshausen neben ihm. Und wir als Zuhörer werden ihn dort sitzen sehen. Vielleicht nicht mit den Augen, aber mit unserer Seele. Das ist das Ungeheure, was mich an aller Literatur begeistert, auch an der Philosophie. Wenn ich philosophiere, kann ich mir anmaßen, am selben Tisch zu sitzen wie Kant, wie Hegel, wie Schelling. Und beim Literaricum dann von Homer über Shakespeare und Goethe bis hinauf zu Günter Grass oder auch einem lebenden Autor.
Was macht den „Simplicius Simplicissimus“ von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, diesen Abenteuer- und Schelmenroman des Barocks zur Lektüreempfehlung?
Michael Köhlmeier: Das ist so unglaublich viel. Schon der erste Satz begeistert mich. Ich habe ja an der Uni meine Hausarbeit über den Simplicissimus gemacht. Zu den vielen Aspekten, die uns heute noch beeindrucken können, zählt beispielsweise jener der Kindersoldaten. Es gibt eine Szene, in der ein schwedischer Offizier den gefangen genommenen Simplicius fragt: He, du bist ja noch ein Kind, was hast du denn gegen uns? Und der Simplicius sagt darauf: Eure Soldaten haben mir meine Murmeln weggenommen und die möchte ich wiederhaben. So einen Satz muss man mal finden. Mit diesem scheinbar naiven Blick die Welt zu betrachten, das Gleiche gilt ja für den Don Quijote, zwingt dich dazu, was du längst kennst, plötzlich aus einem ganz neuen Gesichtswinkel zu sehen. Sodass du dir denkst: Jetzt erkenne ich es erst! Das ist große Kunst, große Poesie.
Herr Schrott, Sie werden für jedes Literaricum eine Veranstaltung konzipieren und dabei die Stationen abschreiten, an denen die Literatur an Konturen und ihre heutigen Formen gewann. Welche Intention steht dahinter?
Raoul Schrott: Es soll von deren Anfängen an aufgezeigt werden, woher die Literatur kommt, nämlich aus verschiedensten Kulturen. Heuer widme ich mich der Literatur aus dem Zweistromland, wo zwar nicht die Literatur erfunden wurde, doch die erste Schrift. So stammen von dort die ältesten überlieferten Gedichte und auch die älteste Geschichte der Menschheit, das Epos von Gilgamesch. Im folgenden Jahr geht’s dann vielleicht um die frühen Griechen, des Weiteren um die Literatur der Araber, der Chinesen und so fort. Wir blicken ja auf 4.000 Jahre Literaturgeschichte zurück, aus der zahlreiche Aspekte aufgegriffen werden können. Ein weiteres Vorhaben ist – noch nicht für das diesjährige Literaricum, doch eventuell für das nächste –, einen Poeta laureatus zu ernennen, wie es im Vereinigten Königreich schon seit Jahrhunderten gepflegt wird. Dabei handelt es sich stets um top Lyriker, die zu besonderen Gelegenheiten, wie Hochzeiten im Königshaus, Gedichte verfassen. Unsere Idee ist es, dass der Poeta laureatus des Literaricum Lech jeden Monat ein Gedicht zu aktuellen politischen Ereignissen in Europa schreibt. Wobei sich jetzt im Nachhinein gezeigt hat, dass die Idee gar nicht so zeitfern ist, wie man meinen könnte. Die große Resonanz auf das Gedicht, das die junge Dichterin Amanda Gorman bei der Inauguration von Joe Biden vorgetragen hat, macht deutlich, dass sich mit einer poetischen Sprache auch etwas Politisches trefflich ausdrücken lässt.
Herr Köhlmeier, Sie nehmen des Öfteren prononciert Stellung zu politischen Themen. Ist daran gedacht, beim Literaricum aktuelle gesellschaftspolitische Fragen zu diskutieren?
Michael Köhlmeier: Ich möchte da Nicola Steiner nicht vorgreifen, doch denke ich, dass dies nur in zweiter Linie der Fall sein kann. Die Literatur ist in erster Linie eine ästhetische Angelegenheit. Wenn das Politische oder Zeitkritische mit reinkommt, dann ist das gut. Aber ich würde vehement dagegen sein, Literatur sozusagen bloß als Transmissionsriemen zu verwenden, um gesellschaftliche Themen zu diskutieren. Wenn ich die Literatur nur zur Illustration von Politischem verwende, wäre das eine Degradierung der Kunst.
Nicola Steiner: Kulturschaffende könnten laut einer Studie mit dem Titel „Rebuilding Europe“, die jüngst das Wirtschaftsberatungsunternehmen Ernst & Young erarbeitet hat, als Beschleuniger für soziale, gesellschaftliche und ökologische Veränderungen in Europa dienen. – Das will ich gern glauben! Wünschen würde ich mir aber natürlich, wie alle aus der Branche, dass der Literatur als Vehikel fürs Nachdenken über unsere Welt noch mehr Aufmerksamkeit zuteilwird.
Inwieweit stimmen Sie sich bei der konzeptuellen und thematischen Ausrichtung des Literaricum Lech ab?
Michael Köhlmeier: Raoul Schrott und ich haben eine beratende Funktion. Wir werden natürlich sehr eng mit Nicola Steiner zusammenarbeiten, aber sie hat freie Hand! Das ist unheimlich wichtig. Im Verein Philosophicum diskutieren wir stets, was das Jahresthema sein soll, doch ist vollkommen klar: Das letzte Wort hat Konrad Paul Liessmann. Er ist derjenige, der das Philosophicum inhaltlich formt. In der Kunst ist die Demokratie kein gutes Mittel, da kommt Durchschnitt raus. Es ist wie beim Kochen. Wenn Sie versuchen, bei einem Gericht verschiedenste Vorlieben zu berücksichtigen, kommt dabei ein grauer, geschmackloser Brei heraus. Nicola Steiner ist meines Erachtens eine ebenso kompetente Verantwortliche für den Inhalt wie Konrad Paul Liessmann für das Philosophicum. Das Literaricum Lech soll und wird ihre Handschrift tragen.
Nochmals ein Bogen zum Philosophicum Lech geschlagen: Was verbindet generell die Literatur und die Philosophie?
Nicola Steiner: Literatur und Philosophie verbindet sehr viel – deshalb bin ich für die Programm-Planung auch im Austausch mit Konrad Paul Liessmann. Dennoch stehen beide Veranstaltungen für sich und haben einen eindeutig definierten Fokus – ein philosophisches Thema im Herbst, ein Meisterwerk der Literaturgeschichte im Frühjahr. Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass wir uns in ein paar Jahren mal zusammenspannen und Frühjahr und Herbst auch thematisch aufeinander abstimmen. Eine Art profane Ökumene sozusagen, zusammen und trotzdem autonom. Wie Slalom und Abfahrt – um metaphorisch in Lech zu bleiben.
Frau Steiner, Sie sind im gesamten deutschsprachigen Raum als Gastgeberin des Literaturclubs im Schweizer Radio und Fernsehen sowie weiblicher Part der beliebten Videoreihe „Steiner & Tingler“ bekannt und machen sich seit vielen Jahren um die Literaturvermittlung verdient. Welche Leitidee verfolgen Sie dabei – und was bereitet Ihnen an diesem Beruf besondere Freude?
Nicola Steiner: Es klingt fast zu simpel: Das Gespräch über Bücher, mit seiner differenzierenden, gegenseitig kritischen Dynamik, ist für mich das Schönste und Reizvollste, was das Leben zu bieten hat. Literatur öffnet Perspektiven, den Blick, die Weltsicht. Im besten Fall reflektiert man nicht nur das eigene Leben, sondern begibt sich mit seinen Gesprächspartnern in fremde Gefilde, ins (intellektuelle) Abenteuer. Und lernt so, über die eigene Welt hinauszudenken.
Herr Schrott, selbst ein Poet halten Sie flammende Plädoyers für die Wertschätzung von Lyrik, die selbst von literarisch Interessierten oft stiefmütterlich behandelt wird. Was macht die Poesie als literarische Gattung, aber auch ganz allgemein wertvoll?
Raoul Schrott: Es ist wahr, dass Lyrik derzeit ein Orchideenfach zu sein scheint. Was aber nicht zuletzt auch an den zeitgenössischen Lyrikern liegt. Es könnte Besseres geschrieben werden, das die Leute auch interessiert. Andererseits wäre es naiv zu denken, dass Lyrik keine Rolle mehr spielt. Man braucht nur das Radio aufzudrehen: Jeder Liedertext ist Lyrik. Auch jede Schlagzeile, jede Werbung wird nach poetischen Prinzipien gestaltet und jede Politikerrede benützt die Mittel der Poesie. Im Grunde ist Prosa nichts als ausgewalzte Poesie. Oder wenn man es als geistiges Getränk bezeichnet, ein verdünnter Spiritus. Was die Poesie auszeichnet, ist die Reflexion über unsere Sprachmittel, über unser Denken. Das erfolgt nirgendwo konzentrierter, fokussierter als in der Poesie.
Michael Köhlmeier: Wie bereits erwähnt, geht es in der Literatur nicht nur darum, fremde Welten zu entwerfen, sondern auch darum, mir meine alltägliche Welt so zu zeigen, als sähe ich sie zum ersten Mal. Wenn es einem Dichter gelingt, einen Augenblick so einzufangen, als wäre es als solcher der erste in Ihrem Leben – oder auch dessen letzter, dann wissen Sie instinktiv – und ich glaube, das weiß dann wirklich jeder –, dass es sich um große Literatur handelt. Über solche Sachen möchte ich beim Literaricum Lech reden. Das kann mich begeistern bis zu meinem Lebensende
Welches Buch fällt Ihnen spontan ein, das Sie nach Lech zur Lektüre mitnehmen würden?
Nicola Steiner: Fürs erste Halbjahr: der „Simplicius Simplicissimus“. Fürs zweite Halbjahr verweise ich auf die Referentinnen und Referenten des Philosophicum Lech.
Raoul Schrott: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust (lacht herzlich). Ich hatte nämlich noch nie so viel Zeit, dass ich mir das vornehmen hätte können.
Michael Köhlmeier: Das ist für mich schwer zu beantworten. Es kann je nach Tag ein anderes sein. In Lech brauche ich jedenfalls kein Buch zu lesen, das im Gebirge handelt. Ich würde Billy Budd von Herman Melville mitnehmen. Ein Buch, das auf hoher See spielt – der denkbarste Gegensatz. So habe ich die Berge und gleichzeitig das Meer, das eine in der Imagination, das andere in der Wirklichkeit.
Informationen inklusive Programm zum Literaricum Lech:
www.lechzuers.com/de/kultur-und-lifestyle/events-und-veranstaltungen/literaricum-lech
Das Interview als PDF: PM_Literaricum Interview 2021
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